Urlaub Nach Venedig, Barcelona und Prag ruiniert der Tourismus nun die Geburtsstadt unserer Autorin in Kroatien. Sie fragt sich: Ist Split noch zu retten?


Exklusiv für Abonnent:innen


|


Ausgabe 36/2023

Mittelmeerträume im Gepäck: Touristen unter ihresgleichen in Split

Mittelmeerträume im Gepäck: Touristen unter ihresgleichen in Split

Fotos: Miroslav Lelas/Pixsell/Imago Images

Meine Geburtsstadt Split an der kroatischen Adriaküste ist zu einem der beliebtesten Reiseziele geworden, in der Sprache des neuen Reisens: Split ist eine „Destination“. Die New York Times widmet der Hafenstadt überschwängliche Texte, weltweit übertreffen sich die Medien seit Jahren in ihren Lobeshymnen auf ihre unvergleichliche Anmut. Influencer posten Fotos aus malerischen Gassen, von den Stränden und aus den Restaurants, Blogerinnen verfassen begeisterte Berichte, die noch mehr Touristen anziehen.

Split wurde in der Vergangenheit von Größen wie Friedrich Wilhelm Murnau oder Orson Welles als Kulisse für ihre Filme entdeckt; in jüngster Zeit ist die Stadt unter anderem ein Drehort der Serie Game of Thrones und der Standort des Festiv

und der Standort des Festivals Ultra Europe. Während die Filme der Vergangenheit nur Kennern Geheimtipps gaben, wird heute jede Erwähnung in einer populären Produktion zu einer Einladung an die Massenströme enthusiastischer Reisender, die ihren Träumen nachjagen und dabei die Einheimischen aus ihrer Stadt vertreiben, ohne es zu bemerken. Darin liegt ein tragisches Missverständnis: Die Konsumenten der massentouristischen Angebote kommen aus ihren Ländern in den Süden, um etwas von der mediterranen Lebensart für sich zu gewinnen, doch angeboten wird ihnen ein nach ihren Wünschen gestaltetes Surrogat, das unwiderruflich das Authentische zerstört. Der Tourismus ist ein giftiger Kuss, der das tötet, was er begehrt.Es könnte bald so weit sein, dass sich die Bewohner von Split, die im Sommer die eigene Altstadt meiden, kaum noch daran erinnern, was zu ihrer Identität gehört. Bisweilen wehmütig, humorvoll, aber auch verbittert beklagen sie sich darüber, dass sich ihre Stadt bis zur Unkenntlichkeit verändert hat; es sei kein Trost, dass es den Venezianern noch schlechter als ihnen gehe und dass im österreichischen Hallstatt die Touristen sogar eine Beerdigung gestört haben, indem sie zum Trauermarsch klatschten. Jeder kann eine Anekdote über die Touristen erzählen: Wie sie bei Temperaturen über 30 Grad in Flipflops auf dem Berg Biokovo wandern, um dann dehydriert vom Rettungsdienst aufgesammelt werden zu müssen, wie sie das schwarze Risotto für ein verdorbenes Essen halten oder wie sie oft den Anker ihrer gemieteten Barke so auswerfen, dass der Meeresboden zerstört wird.Packt die Gummiboote wieder ein!In Split gibt es viel zu verlieren. Die Identität der Stadt und ihres von der UNESCO geschützten römischen Palastes besteht aus Traditionen, die zur Geschichte der Menschheit gehören und die von der Conditio humana zeugen. Dazu zählte die Kultur der Diskussion auf öffentlichen Plätzen, die Pjaca, Piazza, Forum, Agora oder Trg heißen, doch ausgerechnet der Dialog mit diesen neuzeitlichen Gästen scheint nicht realisierbar zu sein – und dafür sind nicht nur die Touristen und Touristinnen verantwortlich.Die Angst davor, dass man die schönen Bilder in den Köpfen der Konsumenten zerstören könnte, indem man öffentlich von den Problemen spricht, ist die genuine Angst eines Wirtschaftszweigs, der von dem Versprechen einer heilen Welt lebt. Doch das Verschwinden traditionsreicher Geschäfte, die von Souvenirläden verdrängt werden, und der dalmatinischen Gastronomie, die durch eine fancy Food-Szene ersetzt wird, eine Überpopulation von Möwen, die Pizzareste aus Abfalleimern picken, die überfüllte Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses, in dem die goldene Partyjugend ihren Komarausch ausschläft oder ihre Verletzungen versorgen lässt, während die älteren Bewohner der Stadt nicht an die Reihe kommen – all das sind Anzeichen eines Übertourismus, der nicht nur in Split, sondern überall auf der Welt ernsthaft überdacht werden muss.Schon seit längerer Zeit fordern vereinzelte kroatische Experten und Expertinnen, dass das Eindämmen der Gier und der Gelüste, die vom schnellen Geld der Tourismusindustrie geweckt werden, zur prioritären Aufgabe kommunaler und staatlicher Stellen gehören müsste. Kroatien als das jüngste Mitglied der EU könnte in diesem Bereich Hilfe gebrauchen; die Länder Europas, die von den Folgen des Übertourismus betroffen sind, sollten mehr Erfahrungsaustausch betreiben.Split ist ein gastfreundlicher Ort, an dem man sich gerne der Lebenslust hingibt, die jedoch aus dem Milieu, aus der Mentalität und der Geschichte hervorgegangen ist und nicht aus den Illusionen und Trugbildern, die man anderswo ersonnen hat. Mittags mit einem Aperol Spritz auf einer Strandliege in der Sonne zu liegen, mag wie die Erfüllung eines Mittelmeertraums wirken, doch die Bewohner der Adriaküste verachten solche Liegen, da diese zu viel Platz einnehmen, genauso wie sie die Lautsprecher an den Stränden und die bunten Cocktails verabscheuen. Die Einheimischen trinken selbstverständlich keinen Alkohol an den Stränden, da man nicht angetrunken ins Wasser geht, und mittags bleiben sie zu Hause, da sie sich mit der Hitze auskennen. Beim Südwind Jugo springen sie nicht von der Mole ins Wasser, sie fahren nicht mit Gummibooten über den Kanal zwischen Split und Brač, sie benutzen sowieso keine Gummi- und Plastikrequisiten und sie überschätzen nicht ihre Fähigkeiten beim Schwimmen gegen eine Strömung. Doch ihre Weisheit dringt nicht zu den Touristen durch.Die Gewinner der boomenden TourismusbrancheWie aber ließe sich der Graben zwischen den beiden Gruppen überwinden? Die Touristen könnten sich bei den Einheimischen nach den Verhaltensregeln und nach ihrem Lebensstil erkundigen, indem sie sich nicht nur aus Hochglanzmagazinen und Instagram-Storys informieren, sondern aus Dokumentarbeiträgen oder Internetforen, in denen ein Austausch mit Einheimischen an den Zielorten möglich ist. Eine neue Kultur des Reisens sollte zum Thema öffentlicher Debatten werden – anstatt zwischen zwei Urlaubsterminen vollständig zu vergessen, dass anderswo ein Leben mit all seinen Implikationen weitergeht. In den Ursprungsländern der Touristenmassen wird immer noch zu selten darüber diskutiert, wie sich das Verhalten der Touristen ändern könnte, um zu verhindern, dass sie im Rahmen ihres Ferienvergnügens alle möglichen Orte rund um den Globus ruinieren.Die Einheimischen ihrerseits könnten den Druck auf die eigene Stadtverwaltung erhöhen, die die örtlichen Unternehmer in ihre Schranken weisen müsste. In diesem Sommer mehrten sich in Split die Proteste gegen die Gewinner der boomenden Tourismusbranche, etwa gegen jene, die den übermäßigen Alkoholkonsum der jungen ausländischen Gäste fantasiereich beförderten, was zu unschönen Szenen geführt hat. Die bezaubernde Hafenstadt mit ihren Palästen, Kirchen, Plätzen, Gassen und archäologischen Schätzen bot auf den Wegen zwischen den Bars und Nachtclubs ein Bild der Ausschweifungen, das an die Szenen des untergehenden Römischen Imperiums erinnerte, nur dass die dekadenten Feiernden keine römischen Patrizier waren, sondern vor allem britische und andere europäische Jugendliche, die auf die ansonsten gar nicht so puritanischen Einheimischen den Eindruck seelischer Verwahrlosung und Desorientierung machten.Man schüttelte ratlos den Kopf und fragte sich, wonach diese hier eigentlich suchten – und warum ihre Eltern sie nicht besser erzogen haben. Die Stadtverwaltung sah sich Ende Juli gezwungen, an den wichtigsten Orten Tafeln mit Benimmregeln und mit der Androhung von Geldstrafen anzubringen; mein Favorit lautet: „Sie gehen gerade durch die Stadt eines römischen Kaisers; bitte benehmen Sie sich so, als wäre er zu Hause.“Fünfmal im Jahr fünf Tage an fünf DestiantionenÄhnlich wie die Kreuzfahrten sollte der Partytourismus am Ausgangs- genauso wie am Zielort ernsthaft überprüft werden. In einer Welt, die an der Schwelle der Umwelt- und Klimakatastrophe steht, sollte mehr Solidarität und mehr Verständnis füreinander entwickelt werden. Wie aber kann die Kultur des Dialogs, die einst an den öffentlichen Plätzen des Mittelmeers gepflegt wurde, ein Teil der gemeinsamen Überlegungen im Norden und im Süden werden? Vielleicht indem schon bei der Planung von Abiturreisen zum Austausch mit Gleichaltrigen aus den Ländern des Südens motiviert wird; anstatt blind hippen Influencer-Storys zu folgen, ließe sich von ihnen erfahren, worauf man in diesen Ländern Wert legt und warum.Der Süden ist nicht der arme Cousin, der die Entwicklungsstufe des Nordens noch nicht erreicht hat – diesen Gedanken hat der italienische Soziologe Franco Cassano eindringlich formuliert. Ganz im Gegenteil, so Cassano, der Süden verfüge über eine eigene Weisheit, von der der Norden profitieren könnte, würde er sich bloß darauf einlassen. Langsamkeit, Achtsamkeit, maßvoller Genuss und Respekt vor der Natur gehören zu Tugenden des Südens, die sich unter dem Ansturm der Touristen zunehmend verlieren.Um die Bewohner von Split besser kennenzulernen, lohnt es sich vor allem, außerhalb der Saison zu kommen und etwas länger zu bleiben, dabei wären Zugreisen zu bevorzugen (und dafür die Verbindungen stärker auszubauen). Anstatt fünfmal im Jahr nur jeweils fünf Tage an verschiedenen Destinationen zu verbringen, was zum heutigen westlichen Tourismus gehört, wären nicht so häufige, dafür aber längere Aufenthalte an einem Ort vorteilhaft für beide Seiten: Längere Aufenthalte wären ökologischer und ökonomischer, außerdem würden sie den Urlaubern mehr Erholung und Entspannung bieten; die Anzahl der Touristen vor Ort würde sich verringern, was für alle ein Gewinn wäre. Das würde bedeuten, dass man im Verlauf des Lebens weniger Orte besuchen könnte, aber ist es wirklich notwendig, Destinationen wie Trophäen zu sammeln? Die Entschleunigung des Reisens wäre ein Beitrag zur Erhöhung der Lebensqualität – und zwar für die Gäste und für die Gastgeber gleichermaßen, und nicht zuletzt auch für unsere gemeinsame Umwelt.Placeholder authorbio-1



Quelle Link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar