Gastkommentar Mit dem Gesetzentwurf zur Selbstbestimmung treten irrationale Ängste in dieser Gesellschaft hervor. Wieso eigentlich?


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Ausgabe 37/2023

Der jahrelange Protest gegen das veraltete Transsexuellengesetz trägt Früchte: Der Kampf um die Selbstbestimmung hat in Deutschland bald ein Ende

Der jahrelange Protest gegen das veraltete Transsexuellengesetz trägt Früchte: Der Kampf um die Selbstbestimmung hat in Deutschland bald ein Ende

Ein Blick zurück: Seit den 1980er Jahren hatte sich die Rechtsanwältin Maria Sabine Augstein für die Rechte von trans*Menschen eingesetzt und erfolgreich gegen verfassungswidrige Regelungen des Transsexuellengesetzes (TSG) geklagt, wofür sie 2015 das Bundesverdienstkreuz erhielt. Sie hat nie einen Hehl aus ihrer Ablehnung des TSG gemacht. Es sei aus einer „totalen Panik“ der Politik geboren. Sie sprach von „blankem Schwachsinn“: Um die Heteronormativität zu bewahren, habe der Gesetzgeber „die Verletzung hochrangiger Grundrechte in Kauf“ genommen.

Dass trans*Rechte als Menschenrechte anerkannt wurden, ist also auch ihr Verdienst. Sie spricht sich heute vorbehaltlos für ein Selbstbestimmungsgesetz aus, denn unsere Verfassung da

fassung darf kein Zwei-Klassen-Recht sein.Inzwischen ist ein Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) zum Greifen nah, aber die Freude darüber ist nicht ungetrübt. An Maria Sabine Augstein zu erinnern, ist darum kein Zufall, denn wie es scheint, haben bei dem aktuellen Gesetzentwurf nicht gerade eine Panik wie beim TSG, aber doch offenbar ziemlich tief sitzende Ängste eines möglichen Kontrollverlusts mitgeschrieben, wo es um die Frage von Geschlecht geht. Auf dem Weg vom Referenten- zum Kabinettsentwurf vermehrten sich in den letzten Wochen die Bedrohungsszenarien.Warum hat der Staat überhaupt ein Regelungs- und Kontrollbedürfnis mit Blick auf Geschlecht? Schon mit dem Referentenentwurf wurde deutlich, wie sehr trans*feindliche Narrative in bestimmten Paragraphen Spuren hinterlassen haben – Stichwort: Sauna und Hausrecht. Als ob sich das SBGG in Paragraphen für trans*, inter* und nicht-binär und solche zur Beruhigung der Gegner*innen spaltet.In Teilen sieht der Kabinettsentwurf heute eher wie ein Schutzgesetz aus, gemacht für den Staat und als Kotau vor lautstark agierenden Gruppen, die die Selbstbestimmung ablehnen. Dabei geht es lediglich um einen niederschwelligen Zugang zum richtigen Namen und Personenstand (Geschlechtseintrag) für trans*, inter* und nicht-binär lebende Menschen. Hat am Ende die Politik Angst vor der eigenen Courage?Das Geschlecht ist keine WahlWenn es um die Frage von Geschlecht geht, wähnt sich jede*r kompetent genug, mitreden zu können. Klar, alle haben ein Geschlecht und sind entweder Frau oder Mann. Aber die wenigsten sind trans*, inter* oder nicht-binär. Eine alte Weisheit besagt, dass wir die Erfahrung eines anderen nicht erfahren können. Das macht das menschliche Zusammenleben zwar kompliziert, und klingt zugegeben recht exklusiv, ist jedoch so banal wie wahr. Was manche nicht hindert, das trans*Sein für verhandelbar zu halten.Und weil alle im Biologieunterricht aufgepasst haben, heißt es: Es gibt nur zwei Geschlechter. Aber wir reden hier nicht über die Fortpflanzung. Nicht die Samen- und Eizellen sind das Thema. Es geht um die Geschlechtsidentität des Menschen. Und die finden wir nicht unterhalb der Gürtellinie, wie uns der US-amerikanische Neurobiologe Milton Diamond versichert: „Das zentrale Sexualorgan des Menschen sitzt zwischen den Ohren und nicht zwischen den Beinen.“ In der Rechtsprechung unseres Landes spielt die Geschlechtsidentität bei der Beantwortung der Frage von Geschlecht seit langem die entscheidende Rolle.Dass sie unabhängig von körperlichen Merkmalen erfolgt, ist in der Tat als Paradigmenwechsel zu bewerten, aus dem aber nicht die Abschaffung von Geschlecht folgt. Alle Neugeborenen werden weiter als weiblich oder männlich einsortiert. Doch zurück zum SBGG. Trans*sein ist keine Wahl, wir sind es durch Geburt. Es ist kein Gefühl, sondern ein Wissen, und es ist die Geschlechtsidentität, die uns und allen Menschen dieses Wissen vermittelt – im Fall von trans* mit der bekannten Abweichung vom Geburtsgeschlecht und im Fall von nicht-binär als ein geschlechtliches Weder-Noch.Genau das berücksichtigt das SBGG. Selbstbestimmt ist also nicht die Geschlechtszugehörigkeit, das trans*Sein, sondern dass „die personenstandsrechtliche Geschlechtszuordnung und Vornamenswahl von der Einschätzung dritter Personen“ gelöst wird, wie es im Entwurf heißt.Warten Männer in diesem Land nur darauf, ihren Geschlechtseintrag ändern zu lassen?Kurzum: Nicht Gutachter*innen entscheiden, wer und was wir sind, sondern wir selbst. Das SBGG anerkennt genau das. Doch seine Gegner*innen wollen darin nur ein Missbrauchsermöglichungsgesetz sehen. Als ob Männer in diesem Land nur darauf warten, ihren Geschlechtseintrag ändern zu lassen, um von Frauen genutzte Räume (Umkleide, Sauna, Toiletten, Frauenhäuser) ungehindert betreten zu können.Die Rede war vom SBGG als ein „Dokument des Realitätsverlusts“. Den Realitätsverlust sehe ich bei den Gegner*innen, die offenbar weder wissen, wo sexualisierte Gewalt in der Gesellschaft entsteht und durch wen. Noch kennen sie die Lebensrealität von trans*Menschen, die nach wie vor von einer strukturellen Benachteiligung betroffen sind – bei allen erkennbaren Verbesserungen.Gravierende Veränderungen kamen nun durch den Einspruch des Innenministeriums zustande. Sie betreffen zum einen die Frage, für welche Ausländer das SBGG offenstehen soll, zum anderen das so wichtige „Offenbarungsverbot“, welches regelt, dass der frühere Vorname einer Person nicht angegeben werden darf.Eine Härtefallregelung wäre angebrachtLeider gibt es zu viele Ausnahmen und zu hohe Hürden, sich gegen Deadnaming zu wehren. In dem einen Fall wird der Personenkreis erheblich eingeschränkt, indem die Zugänglichkeit vom Aufenthaltsstatus abhängig gemacht wird.Im anderen Fall taucht erneut der Missbrauchsverdacht auf. Ausgerechnet bei einem Paragraphen, der eigentlich die Persönlichkeitsrechte von trans*Menschen schützen soll. Erneut wird trans* Sein in kriminelle Zusammenhänge gerückt, in der Annahme, dass Personen, die sich der Strafverfolgung entziehen wollen, eine Vornamens- und Personenstandsänderung beantragen. Deshalb sollen die geänderten Daten breit gestreut werden: vom BKA bis hin zu Hauptzollämtern und zur Finanzkontrolle Schwarzarbeit.Ferda Ataman, die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, fordert die Streichung des Passus, denn weder kenne man durch die TSG-Praxis ein solches Sicherheitsrisiko noch gebe es eine automatisierte Datenübermittlungspflicht bei Namensänderung etwa im Fall von Eheschließung. Ebenso problematisch ist der § 9, wonach im Spannungs- und Verteidigungsfall keine Änderungen von „männlich“ zu „weiblich“ möglich sein sollen. Hören wir dann auf, trans* zu sein? Und warum gibt es nicht wenigstens eine Härtefallregelung?Das TSG erwies sich bekanntlich als eine reiche Fundgrube für Verfassungsbeschwerden. Das SBGG hat sich zwar der Achtung der Menschenwürde verschrieben, dennoch steht zu vermuten, dass es zu einer vergleichbaren Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Verfassungsrechtler*innen werden könnte. Fatal indes, trans*, inter* und nicht-binäre Menschen brauchen die Selbstbestimmung, um endlich ohne Pathologisierung und Diskriminierung einen neuen Namen und den richtigen Geschlechtseintrag zu bekommen. Die historische Chance darf nicht vertan werden.Placeholder authorbio-1



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Von Veritatis

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