Mit dem “Werk der Woche” stellt die “Freie Presse” Kunst im öffentlichen Raum vor. Heute: Die Metallskulptur “7 magere und 7 fette Jahre” von Ralph Siebenborn in Chemnitz (1998).

Kultur im öffentlichen Raum.

Sieben verschieden hohe, polierte Metallsäulen glitzern in der Spätsommersonne vor der Markthalle am Chemnitzer Seeberplatz. In verschiedenen Höhen ragen sie aus einem gepflasterten, leicht gewölbtem Grund. Wie so oft in Chemnitz ist das Kunstwerk nicht bezeichnet, und es deutet auch nichts darauf hin, dass am gegenüberliegenden Ende der Markthalle, nahe der Bierbrücke, sieben schmalere, gleich hohe Säulen der zweite Teil dieser Arbeit von Ralph Siebenborn sind. Sie wirken jetzt eher wie die Begrenzung des Parkplatzes gleich neben der Straße.
Am Seeberplatz stehen die “7 fetten Jahre”, am anderen Ende der Markthalle die “7 mageren Jahre”. Das minimalistisch abstrakte Kunstwerk verweist auf die alttestamentarische Geschichte, in der Joseph einen Traum des Pharaos deutet. Die wiederum interpretiert Ralph Siebenborn mit seinem Werk auf ganz eigene Weise.

Wie Pharao Joseph um Rat bittet

Im 41. Kapitel des Buches Genesis im Alten Testament wird erzählt, wie der Pharao Joseph um Rat bittet: “Ich habe einen Traum gehabt, aber niemand weiß ihn zu deuten.” Er sagt: “In meinem Traume war es mir, ich stände am Ufer des Nils; da sah ich sieben wohlgenährte, schöne Kühe aus dem Strom heraufsteigen und im Riedgras weiden. Nach diesen sah ich sieben andere Kühe heraufsteigen, die dürr und sehr hässlich und mager am Fleisch waren; ich habe in ganz Ägypten nirgends so hässliche gesehen wie diese. Hierauf fraßen die mageren und hässlichen Kühe die sieben ersten wohlgenährten Kühe auf; aber auch als sie in ihren Leib gekommen waren, merkte man ihnen nicht an, dass sie in ihren Leib gekommen waren; nein, ihr Aussehen blieb so hässlich wie im Anfang. Da wachte ich auf. Dann sah ich in meinem Traume sieben Ähren, die oben an einem Halme wuchsen, volle und schöne. Nach diesen aber schossen sieben dürre, dünne, vom Ostwind versengte Ähren hervor; und die dünnen Ähren verschlangen die sieben schönen Ähren. Ich habe dies schon den Schriftkundigen mitgeteilt, aber keiner hat mir eine Erklärung geben können.”
Joseph aber weiß den Traum des Pharaos sofort zu deuten: “Die sieben schönen Kühe bedeuten sieben Jahre, und die sieben schönen Ähren bedeuten auch sieben Jahre: Es ist ein und derselbe Traum. Auch die sieben mageren und hässlichen Kühe, die nach ihnen aus dem Strom heraufstiegen, sind sieben Jahre, und die sieben leeren, vom Ostwind versengten Ähren bedeuten, dass sieben Hungerjahre kommen werden. Wisse: Es werden sieben Jahre mit großem Überfluss im ganzen Lande Ägypten kommen; aber nach diesen werden sieben Hungerjahre eintreten, sodass der ganze Überfluss im Lande Ägypten vergessen sein wird; und die Hungersnot wird das Land so verzehren, dass man von dem früheren Überfluss im Lande Ägypten nichts mehr merken wird infolge der späteren Hungersnot; denn diese wird überaus schwer sein.”

Als Joseph alle Speicher öffnet

Joseph rät: “Und der Pharao wolle Vorsorge tragen, dass er Aufseher über das Land bestelle, und erhebe den fünften Teil des Ertrages vom Lande Ägypten während der sieben Jahre des Überflusses. Man sammle so den gesamten Ernteertrag jener guten Jahre, die nun kommen werden, und speichere das Getreide unter der Obhut des Pharaos als Vorrat in den Städten auf und verwahre es dort. Dann wird dieser Vorrat dem Lande einen Rückhalt für die sieben Hungerjahre gewähren, die im Lande Ägypten eintreten werden, und das Land wird durch die Hungersnot nicht zugrunde gerichtet werden.”
Diese Traumdeutung war womöglich nicht ganz selbstlos, denn Joseph wurde nun zum “Gebieter im Lande”, sammelte während der “sieben fetten Jahre” Getreide in ganz Ägypten und verkaufte es, natürlich zu seinen Preisen, in den “sieben mageren Jahren”: “Als die Hungersnot über das ganze Land gekommen war, öffnete Joseph alle Speicher und verkaufte Getreide an die Ägypter. Aber der Hunger wurde immer drückender in Ägypten. Auch alle Welt kam nach Ägypten, um bei Joseph Getreide zu kaufen; denn der Hunger wurde immer drückender auf der ganzen Erde.”
Die Bibel verweist hier zum einen auf die stetige Abfolge von guten und schlechten Zeiten, im damaligen Ägypten nicht zuletzt durch wärmere und kältere, regenreichere und regenärmere Jahre verursacht, und sie mahnt zur Vorsorge in den guten für die schlechteren Jahre – was auch heute noch einen wichtigen Teil der Staatskunst, der Wirtschafts- und Steuerpolitik, aber auch der persönlichen Haushaltsführung ausmacht. Und sie beschreibt auch schon ein Stück Kapitalismus mit seinen zyklischen Krisen, Konjunkturschwankungen und verweist auf die Globalisierung, lange bevor es sie in größerem Maße gab. Joseph wird gewissermaßen zum ersten Spekulanten, der sich an der Not der anderen bereichert.

Eher magere Jahre für den Osten

Der Bildhauer Ralph Siebenborn, Jahrgang 1947, stellt nicht einfach sieben dicke und sieben schmale Säulen gegenüber. Er schuf die Plastik in den 90er-Jahren, die für den Osten Deutschlands eher magere Jahre waren: geschlossene Betriebe, hohe Arbeitslosigkeit, keine Ersparnisse, auf die die Menschen zurückgreifen konnten. Die Säulen der “sieben mageren Jahre” sind dünner, aber sie sind alle gleich hoch. Die Säulen der “sieben fetten Jahre” sind zwar dicker, aber sie haben verschiedene Höhen. Kann heißen: Die fetten Jahre machen nicht jedermann gleichermaßen reich. Die mageren Jahre aber machen fast jedermann arm, und sie erinnern daran, wer die Zeche in schlechten Zeiten noch immer zahlt. Das klingt auch an im Roman “Hinter der Blechwand” des Polen Andrzej Stasiuk, der über die Bewohner einer kleinen Stadt im Osten in jenen mageren Jahren schreibt: “Sie wollten nicht für etwas bezahlen, was sie nicht bestellt hatten. Sie rochen den Braten, und statt Freiheit hätten sie lieber Gleichheit gehabt.”

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Von Veritatis

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