Ausbau 80 Prozent des Stroms in Deutschland sollen 2030 aus erneuerbaren Energiequellen stammen. Kann das gelingen? Zeit für eine Zwischenbilanz
Hatten FDP und Union vor mehr als zehn Jahren erfolgreich abgewürgt: Solarmodul-Produktion in Deutschland, hier in Dresden
Foto: Thomas Victor/Agentur Focus
Es ist nicht ganz klar, ob es der Solarpark im Boitzenburger Land war, der die Schallmauer durchbrochen hat: Am 19. September ging das Projekt in Ostbrandenburg ans Netz – mit einer Leistung von mehr als 180 Megawatt (MW) eine der größten Photovoltaikanlagen, die je in Deutschland gebaut wurden. Bis Ende September sind davon schon so viele ans Netz gegangen, wie die Ampel-Regierung sich ursprünglich bis Jahresende vorgenommen hatte: 9.000 MW Leistung Photovoltaik sollten es 2023 werden, nach den Daten der Bundesnetzagentur wurden aber bereits 700.000 neue Sonnenkraftwerke mit einer Leistung von 9.100 MW installiert.
Damit ist auch das bisherige Rekordjahr deutlich übertroffen: 2012 wurden in Deutschland über 8.000 MW aufgebaut. Der Grund für den neuen deu
neuen deutschen Sonnenrausch ist relativ simpel: Einerseits hat die Bundesregierung Anfang des Jahres die Mehrwertsteuer für Solarkraftwerke auf null abgesenkt, weshalb die Anlagen auf einen Schlag um 19 Prozent billiger wurden. Andererseits ist der Strompreis in den vergangenen Jahren stark gestiegen, weshalb der selbst genutzte Solarstrom wirtschaftlich attraktiv ist. Dank der technologischen Lernkurve sind die Anlagen heute nur noch halb so teuer wie vor 15 Jahren.Zum Dritten gibt es mit den sogenannten „Balkonkraftwerken“ ein Produkt, das einen neuen Nutzerstamm erschloss: Menschen, die selbst kein Eigenheim besitzen, können solche Stecker-Solargeräte sehr einfach nutzen. Zudem gibt es vielerorts Förderung für den Kauf dieser Kleinkraftwerke. Das Land Sachsen zahlt beispielsweise pauschal 300 Euro pro Anlage, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern fördern Mieter:innen mit 500 Euro. Viertens wurden die Fördersätze für „Mieterstrom-Anlagen“ erhöht und bürokratische Hürden abgebaut: Für Mieter und Vermieter sind jetzt Gemeinschaftssonnenkraftwerke auf Mietshäusern gleichermaßen attraktiv – für die Mieter, weil das die Stromkosten stark senkt, für den Vermieter, weil seine Wohnungen so attraktiver werden.Der Ausbau der Solarenergie ist trotzdem zu langsamGenauer betrachtet ist das neue Solartempo aber trotzdem noch zu langsam. Beschlusslage der Regierung ist nämlich, dass Deutschland im Jahr 2030 seinen Bruttostromverbrauch zu mindestens 80 Prozent aus erneuerbaren Energien deckt. 2022 waren es nur 46,2 Prozent, im ersten Halbjahr 2023 immerhin 57,7 Prozent. Die Photovoltaik soll eine wichtige Rolle spielen, die Regierungspläne sehen in sieben Jahren einen Kraftwerkspark mit 215.000 MW Leistung vor. Zum Jahresanfang waren aber erst 67.600 MW installiert: Selbst wenn in diesem Jahr 12.000 MW neu hinzukommen – wovon Analysten ausgehen –, zeigt einfache Mathematik, dass das Ausbautempo bei weitem noch nicht ausreicht.Nach Regierungsvorgaben sollen deshalb von 2026 an jährlich 22.000 MW neu zugebaut werden. Dafür braucht es eine Infrastruktur, die es heute so noch nicht gibt: mehr Lieferanten, mehr Händler, mehr Installateure und Behörden, die den Zubau managen. Denn natürlich muss sichergestellt werden, dass Freiflächenanlagen genehmigt und ordnungsgemäß ans Netz geschaltet werden: Zur Hälfte soll der Zubau durch Freiflächenanlagen erfolgen, zur anderen Hälfte über Dachanlagen.Das Land Brandenburg hat gerade eine Solar-Initiative gestartet. Bis 2030 soll mit ihr die installierte Photovoltaikleistung von derzeit 6.200 MW auf 18.000 MW fast verdreifacht werden. Zugebaut werden sollen „insbesondere Dachanlagen, Parkplatz-PV und sonstige besondere Solaranlagen wie Agri- oder Floating-PV“, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. Brandenburg zählt bereits heute zu den Regionen mit der höchsten Solarstromdichte weltweit, statistisch sind pro Kopf 2,4 Kilowatt Sonnenkraft installiert. Schlusslicht unter den Flächenländern ist Nordrhein-Westfalen mit 0,4 Kilowatt pro Kopf.Das Ausschreibungsprinzip bremst den Ausbau der WindkraftSolche Initiativen wären auch beim Ausbau der Windenergie vonnöten, denn da hinkt es gewaltig: Auch hier sollten 2023 Windräder mit einer Leistung von 9.000 MW neu ans Netz gehen, in den ersten neun Monaten wurden nicht mal halb so viele gebaut. Auch hier sind die Gründe einfach. Der wichtigste: Das Investitionsverfahren funktioniert einfach nicht.In Deutschland kann ein Investor nicht einfach so einen Windpark bauen, er muss sich dafür bewerben. Die Regierung – hier in Gestalt der dem Bundeswirtschaftsministerium unterstellten Bundesnetzagentur – schreibt einen Plan dafür aus, wie viel Windkraft in einem bestimmten Zeitraum aufgebaut werden soll. Investoren bieten dann zu einem bestimmten Preis für die Kilowattstunde Windstrom. Den Zuschlag bekommt, wer zu den günstigsten Kosten bietet. Ausgedacht hatten sich diesen Plan vor mehr als zehn Jahren der damalige Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) und sein Kollege aus dem Umweltressort, Norbert Röttgen (CDU). Bis dahin wurde der Ausbau der Windkraft über die EEG-Umlage finanziert, die für alle Investoren gleich war. Rösler und Röttgen argumentierten damals: Mit den Ausschreibungen wird die Energiewende billiger.Doch aus der Kopfgeburt ist eine Bremse der Energiewende geworden. „Ausschreibung immer noch unterzeichnet“, teilte die Bundesnetzagentur im August mit. Ursprünglich wollte die Behörde fast 3.200 MW ausschreiben, Gebote wurden gerade mal für 1.436 MW eingereicht. Um ein Angebot abgeben zu können, müssen Investoren das Projekt so detailreich planen, dass der Preis, zu dem sie bauen wollen, auch belastbar ist. Das geht schnell in den sechsstelligen Euro-Bereich und bleibt trotzdem riskant. Denn ob der angegebene Preis tatsächlich erzielt werden kann, hängt auch von Rahmenbedingungen ab, die Investoren nicht beeinflussen können.Was die Kosten in der Windenergie wirklich in die Höhe treibtIm Windpark Görzig-Ost in der Mark Brandenburg drehen sich zum Beispiel zwei Windräder, das dritte aber steht seit über einem halben Jahr still. Ausgeschrieben waren die Anlagen 2019. Obwohl es längst Strom produzieren könnte, fehlt dem dritten Windrad immer noch die Betriebsgenehmigung. Ein anderes Beispiel: Nach Angaben des Bundesverbandes Windenergie sind bei der bundeseigenen Autobahn GmbH 15.000 Verfahren aufgelaufen: Für den Bau eines mittelgroßen Windrades sind etwa 15 Schwerlasttransporte notwendig, für Flügel oder Türme. Diese dürfen aber erst rollen, wenn die Autobahn GmbH sie genehmigt hat – jeden Transport einzeln. Nicht die einzige Abhängigkeit von den Behörden. „Man braucht pro Windkraftanlage ungefähr 150 Genehmigungen, um eine Anlage aufzustellen“, sagt Wolfram Axthelm, Geschäftsführer des Bundesverbands Windenergie.Fehlende Genehmigungen führen zu Verzug – und das treibt die Kosten: Ein Installationskran wird mit 15.000 Euro pro Tag veranschlagt, er muss lange im Voraus geordert werden. Fehlt dann die Transportgenehmigung, wird das Projekt nicht nur teurer, der Kran muss warten und fehlt dadurch bei einem anderen Projekt, das Kosten aufhäuft, die in der Ausschreibung in der Regel nicht kalkuliert wurden.Derlei Sand im Getriebe hat Auswirkungen auch auf die Firmen: Wegen zu geringer Nachfrage wurden im vergangenen Jahr die letzten Werke für die Rotorblattfertigung in Deutschland dichtgemacht. Gefertigt wird jetzt in Indien, Portugal oder in der Türkei. Auch die wenigen verbliebenen Photovoltaik-Produzenten kämpfen mit Schwierigkeiten: In einem offenen Brief an die EU fordern 13 europäische Hersteller eine Solaroffensive. Es gibt auch Rufe nach „Notkäufen“, „Strafzöllen“ und den Vorwurf des „Dumpings“ durch chinesische Hersteller. Denn weil die Bundesregierung vor zehn Jahren die EEG-Tarife drastisch kürzte und damit ein Firmensterben auslöste, kommen heute mehr als 80 Prozent aller in Deutschland verbauten Solarpaneele aus China. Der Marktanteil europäischer Hersteller liegt dagegen im einstelligen Prozentbereich. Experten warnen aber: Bereits vor zehn Jahren hatte die EU versucht, mit Strafzöllen einheimische Anbieter vor chinesischen Konkurrenten zu schützen. Das habe damals einen „Umsatz-Blackout“ ausgelöst, urteilt der Solaranalyst und Unternehmer Karl-Heinz Remmers.