Sie hat sich auf die Ökonomie der Ungleichheit spezialisiert: Charlotte Bartels forscht dazu am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und schrieb das deutsche Kapitel des World Inequality Report, des Ungleichheitsprojekts von Thomas Piketty. Ihre jüngste Studie untersucht, ob Marx oder seine Gegner am Ende Recht behalten haben.

der Freitag: Frau Bartels, in letzter Zeit hört man oft, die Einkommensunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland würden kleiner, die Renten glichen sich auch an, ökonomisch sei also bald Gleichstand erreicht. Was man dabei ausblendet: Der Hauptmotor für Ungleichheit ist die Vermögensverteilung, und da liegen Ost und West fast so weit auseinander wie im Jahr 1990. Wie sehen Sie das?

Charlotte Bartels: Ich kann dazu auf zwei Studien zurückgreifen, die ich mit Kollegen am DIW, IfW Kiel und an der Universität Bonn anhand von Haushaltsbefragungsdaten, Einkommensteuerdaten, der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und Vermögensbilanzen gemacht habe. Damit untersuchten wir die ökonomischen Unterschiede seit der Wiedervereinigung und fanden heraus, dass sich die anfänglich große Lücke über 30 Jahre nur wenig geschlossen hat. Das hat drei Gründe: Die Ostdeutschen besitzen fast keine großen Unternehmen, sie besitzen seltener Immobilien als die Westdeutschen, und die Immobilien, die sie besitzen, sind durchschnittlich weniger wert. Die Vermögensunterschiede sind persistent, wie wir Ökonominnen sagen: Sie halten sich hartnäckig über die Zeit.

Und die zweite Studie?

Da haben wir untersucht, wie das Nationaleinkommen – also Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen – verteilt ist, und auch da gibt es einen Riesenunterschied zwischen Ost und West. Die Immobilien, die die Ostdeutschen besitzen, bringen im Durchschnitt geringere Erträge und ihre Unternehmen kleinere Gewinne.

Sie haben erforscht, dass in Westdeutschland heute viele Familien sehr reich sind, die das schon vor 100 Jahren waren. Nun gab es in der DDR aber einen Bruch, Vermögen wurde enteignet, zu Volkseigentum gemacht. Nach der Wende hat man dieses Vermögen einfach genommen und billig an ein paar Westdeutsche abgegeben: Hatte man damals nicht auf dem Schirm, welche Folgen das hat?

Hans-Werner Sinn hat in den 1990er Jahren schon kritisiert, dass der Vermögensbesitz der DDR nicht in nennenswertem Anteil an die Ostdeutschen übergegangen ist. Tatsächlich ist das Unternehmens- und Immobilienvermögen der DDR zum großen Teil von Westdeutschen gekauft worden. Einerseits prozedural bedingt dadurch, wie die Treuhand das abgewickelt hat, aber andererseits bedingt durch die unterschiedliche Finanzkraft: Die westdeutschen Unternehmer hatten Geld beziehungsweise Zugang zu Geld, um Ostunternehmen aufzukaufen. Es hat ein Zeitfenster gegeben, das man hätte nutzen können, um die ostdeutsche Bevölkerung in Immobilienbesitz zu bringen. Das hat man nicht genutzt, stattdessen gab es auch noch großzügige fiskalische Anreize für westdeutsche Gutverdiener, in Ostdeutschland Immobilien und Land zu kaufen. Mittlerweile sind die Preise in Städten wie Leipzig stark gestiegen. Die Chance für einen Ostdeutschen, der nichts oder wenig erbt, jetzt eine Wohnung in Leipzig zu kaufen, ist damit über die Zeit immer geringer geworden.

Das wird so bleiben, oder?

Ich würde gerne etwas zu der Grafik, die derzeit diskutiert wird, anmerken. Die Karte der Erbschaftsverteilung zwischen Ost und West sieht krass aus, aber sie zeigt nicht das ganze Bild. Die Erbschaftsteuerdaten können wir nur auf Bundeslandebene auswerten – und nicht etwa nach Kreisen –, dadurch sieht es so aus, als ob ganz Bayern erbt und niemand in Sachsen. Das stimmt natürlich nicht. Wir sollten nicht vergessen, dass es auch in Westdeutschland sehr viele Menschen gibt, die gar nichts erben. Und es gibt auch in wohlhabenderen ostdeutschen Regionen Menschen, die privilegiert sind.

Vermögensaufbau läuft über Immobilien: Nun ist es in den letzten zehn Jahren sehr viel schwieriger geworden, eine Wohnung oder ein Haus zu kaufen.

Ja, wir hatten in den letzten zehn Jahren einen rasanten Preisanstieg, der zeitgleich mit einer Entwicklung passiert ist, die wir Ökonomen Agglomerationsökonomie nennen. Immer mehr Jobs, vor allem gute Jobs, sind in Metropolregionen. Gleichzeitig ist es deutlich schwieriger geworden, ohne Erbschaft oder Schenkung in die teurer gewordenen Immobilienmärkte dieser Metropolregionen einzusteigen. Umso mehr, und da sind wir bei einem Aspekt, der politisch verändert werden könnte, als die Nebenerwerbskosten in Deutschland sehr hoch sind.
Wir finalisieren gerade eine Studie, die zeigt, dass man, wenn man in einer dynamischen Region aufgewachsen ist, wo es ein höheres Wirtschaftswachstum gab, eher ein Haus oder eine Wohnung kauft und Vermögen aufbaut. Das finden wir übrigens sowohl bei Erben als auch bei Menschen, die keine Erbschaft oder Schenkung erhalten haben. Andere Studien haben bereits gezeigt, dass Informationszugang und Peer-Effekte wichtig für Investitionen sind.

Das wäre ja dann auch ein Ansatzpunkt, wie man die Vermögensverteilung verändern kann?

Ja. Wir können die Menschen dabei unterstützen, Vermögen aufzubauen, indem wir Steuern senken, Informationshürden abbauen oder mit Startkapital helfen. Und das sollten wir konsequenterweise auch tun, wenn wir uns als Gesellschaft dafür entscheiden, dass wir weniger Güter öffentlich bereitstellen beziehungsweise deren Qualität senken. Wir könnten uns aber auch anders entscheiden: Wir könnten sozialen Wohnungsbau aus Steuern finanzieren und unseren Kindern eine gute öffentlich finanzierte Ausbildung bieten. Dann muss gar nicht jeder selbst Vermögen aufbauen.

Sie haben eine Studie dazu publiziert, die untersucht, ob Marx mit seinen Prognosen recht hatte oder doch seine Gegner wie Eduard Bernstein und die Revisionisten in der SPD. Wie kamen Sie dazu und wie ist die Sache ausgegangen?

Nun, Marx ist ja schon lange tot, aber er beschäftigt uns immer noch. Zwei Wirtschaftshistoriker und ich haben uns überlegt, dass es interessant wäre, zu untersuchen, ob Marx am Ende Recht behalten hat. Wir haben die gleichen Daten verwendet, die auch in der berühmten Debatte Ende des 19. Jahrhunderts zwischen den orthodoxen Marxisten und den Revisionisten innerhalb der SPD die Grundlage bildeten. Die Frage war ja: Führt Kapitalakkumulation zu größerer Ungleichheit, und die dann zu steigender Unterstützung unter den Arbeitern für die Revolution? Unser Fazit war: Das marxistische Lager hatte definitiv damit Recht, dass Kapitalakkumulation zu einer höheren Einkommensungleichheit führt, auch wenn das nicht automatisch zu einer steigenden Konzentration des Kapitals geführt hat, wie Marx das vorhergesagt hatte. Auch die politische Unterstützung für Sozialisten hat sich nicht automatisch über die Zeit erhöht. Die Revisionisten lagen richtig, dass erst Gewerkschaften und Organisierung dazu führen, die Unterstützung für die SPD zu stärken.

Erfolgreiche Streiks zum Beispiel waren in den jeweiligen Regionen mit einem Rückgang der Spitzeneinkommen (für die Kapitaleigner) verbunden, zumindest temporär. Das konnten wir in den Daten nachweisen, was nahelegt, dass in diesem Punkt die Revisionisten recht behalten haben: Der Kapitalismus konnte verändert werden, und das Wohlergehen der Arbeiter durch den Einsatz der Gewerkschaften verbessert werden. Wir haben dann geschlossen: Beide Lager lagen in Teilen richtig.

Zur Person

Charlotte Bartels ist Ökonomin am DIW, dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Von Oktober 2023 an lehrt sie an der LMU München Komparative Wirtschaftsforschung, als Vetretung für die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer



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Von Veritatis

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