Neustart In gesellschaftlichen Krisenzeiten hat die politische Linke eigentlich Hochkonjunktur – die Linkspartei anno 2023 nicht. Beim Parteitag in Augsburg ringt die krisengeschüttelte Partei mit ihrem eigenen Bedeutungsverlust


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Ausgabe 47/2023

Martin Schirdewan (links) erhielt mit 86,9 Prozent weniger Stimmen als Gerhard Trabert (96,8 Prozent) bei der Aufstellung der Europa-Liste der Linken, und mehr als Carola Rackete (77,8 Prozent) und Özlem Alev Demirel-Böhlke (62 Prozent). Janine Wissler (rechts) ist weiter Parteichefin und Bundestagsabgeordnete.

Martin Schirdewan (links) erhielt mit 86,9 Prozent weniger Stimmen als Gerhard Trabert (96,8 Prozent) bei der Aufstellung der Europa-Liste der Linken, und mehr als Carola Rackete (77,8 Prozent) und Özlem Alev Demirel-Böhlke (62 Prozent). Janine Wissler (rechts) ist weiter Parteichefin und Bundestagsabgeordnete.

Foto: Chris Emil Janßen/Imago

Um die Spannung nicht allzu groß werden zu lassen, sei gleich zu Beginn vermerkt, dass die beiden Parteivorsitzenden das W-Wort an diesen beiden Tagen kein einziges Mal in den Mund genommen haben.

Die abtrünnige Sahra Wagenknecht war dennoch der unausgesprochene Referenzpunkt der allermeisten Reden und Einlassungen beim Linken-Parteitag in Augsburg, obwohl mit der „blinden, lähmenden Selbstbeschäftigung“ doch endlich Schluss sein sollte – so hatte es Dietmar Bartsch gesagt, der Noch-Fraktionschef. Diesen Titel wird er mit der Auflösung der Bundestagsfraktion am 6. Dezember los sein.

Die Partei hat ein neues „Corporate-Design“

Stattdessen hat sich die Parteiführung in den zwei Tagen in Augsburg mindestens ein halbes Dutzend Mal durch

iführung in den zwei Tagen in Augsburg mindestens ein halbes Dutzend Mal durch das Œuvre von Bertolt Brecht zitiert („Wenn ein Freund geht, muss man die Tür schließen, sonst wird es kalt“), der bekanntlich 1898 in Augsburg geboren wurde – so als könnte dem großen sozialistischen Geschichtenerzähler doch noch ein Happy End einfallen für die missliche Gegenwart der Linken. Aber wie weit Brecht von dieser Linken gedanklich entfernt sein dürfte, das zeigte sich gleich zu Beginn des Parteitags, als die Co-Vorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan stolz das neue Linken-Corporate-Design präsentierten, das erste überhaupt seit Gründung der Partei 2007. Dieses neue Design werde „ein wichtiger Teil unseres Comebacks als moderne sozialistische Gerechtigkeitspartei“ sein, so heißt es im offiziellen Begleittext. Soziale Gerechtigkeit trägt jetzt die Farbe Rot, Klimaschutz ist grün, Frieden blau. Form also, nicht Inhalt. Ketzerisch könnte man sagen: Markenbildung für eine Partei, just in dem Moment, in dem ihr der Markenkern abhandengekommen ist.Ein weiterer Beleg dafür, dass die Linke im Parteien-Mainstream angekommen ist, dort also, wo man gar nicht verortet werden will. Zu oft hatte Wagenknecht in dieser Wunde gebohrt („Lifestyle-Linke“), sodass sie sich subkutan in der Mitte der Partei als Phantomschmerz abgelegt hat. „Wir sind die einzige Partei, die die Systemfrage stellt!“, postulierte dagegen Björn Harras vom thüringischen Landesverband zu Beginn der Generaldebatte, so als wollte er das Selbstbild der Partei im politischen Spektrum wieder geraderücken.Klima, Krieg, Elon Musk, Recep Tayyip Erdoğan, …Mal abgesehen davon, ob das überhaupt stimmt und die AfD nicht etwa auch die Systemfrage stellt, wenn auch mit völlig anderer Zielrichtung, hatte Schirdewan, Spitzenkandidat für die Europawahl 2024, kurz zuvor in seiner Rede gegen die „kapitalistische Gesellschaft“ umrissen, welche gewaltigen Aufgaben damit verbunden sind – eine kämpferische Auflistung aller Krisenherde, derer sich seine Partei anzunehmen gedenke. Ob wachsende Kinderarmut oder steigende Energiepreise, ob die Privatisierung des Gesundheitswesens oder die geschmacklose Börsenspekulation mit Nahrungsmitteln, ob Klimawandel oder Krieg in Nahost oder Ukraine, ob Elon Musk oder Autokrat Recep Tayyip Erdoğan, dem gerade beim Deutschland-Besuch „der rote Teppich“ ausgerollt worden sei, ob Rüstungswahnsinn oder Antisemitismus – dem Beobachter schwirrte der Kopf ob der Mannigfaltigkeit der nationalen wie globalen Krisen. So richtig und logisch und sympathisch das alles klang – denn wer ist nicht gegen Kinderarmut und Krieg? –, ploppte doch schnell die zentrale Frage in der Augsburger Messehalle auf: Sind das nicht ein bisschen viele Krisen für eine krisengeschüttelte Partei, die mit sich selbst ringt?„Einfach zu viel Prosa“Es war ein auffallend harmonischer Parteitag für die Verhältnisse der Linken, ein realistischer war es nicht. Da brauchte es nicht einmal einen Blick auf die aktuellen Umfragewerte und die Serie von Wahlniederlagen zuletzt. Im Vorfeld des Parteitags war in Medien von „Aufbruch oder Abbruch“, „Neustart oder Untergang“ und dann bei Schirdewan selbst vom „Scherbenhaufen“ die Rede gewesen, und wenn man verunsichert ist, dann ist der Phrasendrescher oft nicht weit – ob Wisslers „Links wirkt“, Schirdewans „Wir sind wieder da“ oder Torsten Felstehausens „Holen wir uns unsere Zukunft zurück“ – ausgerechnet Felstehausen, der gerade mit der Linken in Hessen aus dem Landtag gewählt wurde. Dieser neuen Harmonie traute manche Delegierte nicht über den Weg.Keine 20 Minuten nach Schirdewan steht Theo Glauch von der bayerischen Linken am Mikrofon der Generaldebatte und beklagt die „große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit“. Die Partei müsse „fokussierter“ werden, der ganze Strauß an Themen helfe nicht weiter, sondern schade dem „Gebrauchswert der Linken“. Mechthild Donath vom Ortsverband Glienicke/Nordbahn bemängelt direkt nach ihm „einfach zu viel Prosa“. Eigentlich meint sie das 80 Seiten starke, aus ihrer Sicht viel zu lange Europawahlprogramm, aber es wirkt wie eine Replik auf Schirdewans Weltkrisenlösungspatent. Eine andere Delegierte beklagt, das Wort „sozialistisch“ komme im Programm nicht ein einziges Mal vor.Kaffeepause mit Kathrin Otte von der Linken in Niedersachsen. Otte zählt zur Strömung der Sozialistischen Linken, und ihr Frust über die „Selbstbezüglichkeit“ der Partei ist unüberhörbar. „Die Parteivorsitzenden beschreiben Phänomene, aber sie benennen keine Ursachen. Das ist abgeflacht und substanzlos, und ja, zu viel Prosa“, sagt Otte. Eine Analyse der weitgehend kriegerisch ausgelegten Führungsrolle Deutschlands in Europa habe gar nicht stattgefunden, ebenso wenig eine Kritik an den USA, die den Ukraine-Krieg für eigene Zwecke instrumentalisierten. Partiell werde immer mal wieder viel Richtiges gesagt, aber nicht so gehandelt, meint Otte: „Wo ist denn der Klassenkampf, von dem immer die Rede ist? Ich sehe ihn nicht!“700 NeueintritteDaran würden auch die über 700 Parteieintritte seit dem Wagenknecht-Abtritt nichts ändern, überwiegend junge Leute, die für Wissler und Schirdewan der Beleg dafür sind, dass die Talsohle durchschritten sei. Einige der Neuen dienen als Testimonials für eine „Erneuerungskampagne“, die die Partei in Augsburg vorstellte.Otte dagegen beklagt eine fehlende politische Bildung bei weiten Teilen der Delegierten, der man erst einmal begegnen müsste. Es sei das Recht der jungen Leute, die nie einen Kalten Krieg erlebt haben, von einer besseren Welt zu träumen, aber das reiche heute nicht mehr. Gerade jetzt müssten die Ursachen benannt und mit offenem Visier angepackt werden, das sähen sie in der Partei immer weniger.Ein Linken-Parteitag wie der in Augsburg ist immer auch für politische Laien interessant, weil man mit Zahlen konfrontiert wird, mit denen jeder etwas anfangen kann. Nach zwei Tagen weiß man dann, dass es in Deutschland 226 Milliardäre gibt, drei Millionen Kinder und Rentner in Armut leben, weltweit 21 Kriege und 200 bewaffnete Konflikte stattfinden, Deutschland der fünftgrößte Waffenexporteur der Welt ist und 90 russische Kriegsdienstverweigerer hierzulande Asyl bekommen haben. Aber welche Handlungsanleitung erwächst daraus?Zur Friedensdemo in BerlinTatsächlich gab es eine ernsthafte inhaltliche Debatte in den Tagen von Augsburg nur zum Nahostkonflikt. In der Summe der Redebeiträge konnte man den Eindruck gewinnen, dass die Gräuel der israelischen Armee in Gaza als schlimmer bewertet würden als die Gräuel der Hamas vom 7. Oktober. Der hessische Direktkandidat Nick Papak Amoozegar kam mit Palästinenserschal, sprach vom „Genozid“ und meinte die israelische Armee. Janine Wissler und Dietmar Bartsch sorgten anderntags für eine Korrektur („Antisemitismus ist widerwärtig“). In der Nahostfrage ist die Linke gespalten – aber unabhängig davon, auf welchem Niveau die Debatte verlief, es gab wenigstens eine. Das lässt sich von den anderen Großthemen nicht behaupten.Glaubt man den Demoskopen, ist die Frage der Zuwanderung derzeit das Thema, das die Menschen im Land mit am meisten bewegt. Welchen konkreten Standpunkt nimmt die Linke dazu in Augsburg ein? „Wir haben kein Flüchtlingsproblem, wir haben ein Verteilungsproblem“, sagt Co-Vorsitzende Wissler. „Die teuersten Flüchtlinge sind die Steuerflüchtlinge“ – mehr kommt inhaltlich zum Thema Migration nicht. Reicht das?Oder, Thema Krieg und Frieden: Man müsse das Land „nicht kriegstüchtig, sondern friedenstüchtig machen“, sagt Wissler. Wie das geschehen soll, sagt sie nicht. Gleichzeitig beklagen Parteiströmungen wie die Sozialistische Linke, das „Was tun?!“-Netzwerk oder die Karl-Liebknecht-Kreise, dass „die Positionen des Erfurter Grundsatzprogramms aufgegeben“ werden, und machen das unter anderem an der „halbherzigen Unterstützung“ (Otte) der Partei für die große Friedensdemo am kommenden Wochenende in Berlin, „Nein zu Kriegen – Rüstungswahnsinn stoppen – Zukunft friedlich und gerecht gestalten“ fest. Wie passt das zusammen?Was Dietmar Bartsch „Unsinn“ nenntWährend Noch-Fraktionschef Bartsch in Augsburg den Vorwurf, die Fraktion schade der Partei, als „Unsinn“ verworfen hat, glaubt Kathrin Otte genau das. Die parlamentarische Arbeit habe die Ecken-und-Kanten-Themen der Linken abgeschliffen „wie das Flussbett die Kieselsteine“. Gerade deshalb findet sie Sahra Wagenknechts „materialistischen Blick auf die Wirklichkeit“ interessant. Nicht so viel Affirmation, stattdessen mehr Aktion, das würde Otte gefallen. Je länger sie redet, desto mehr kann man den Eindruck gewinnen, dass die Aufspaltung der Linken, zumindest temporär, längst einer Dreiteilung gleichkommt. Die Mainstream-Mitte, angeführt von Wissler und Schirdewan, die den Parteitag geprägt hat; das Wagenknecht-Lager, das schon weg ist; und die vielen Unzufriedenen aus der Sozialistischen Linken, die mit einem Austritt liebäugeln oder ihn schon für sich beschlossen haben und jetzt nicht wissen, wohin. So wie Kathrin Otte. Sie ist erst seit sechs Jahren Mitglied der Linken, in dieser Woche nach dem Parteitag wird sie die Partei verlassen, und sie glaubt, dass sie da nicht die Einzige ist.Ob sie sich nach Parteigründung im Januar 2024 Sahra Wagenknecht anschließen wird, lässt sie offen. Die Parteiführung spricht von Aufbruch, die friedensbewegte Basis hadert, das Happy End, lieber Bertolt Brecht, ist längst noch nicht geschrieben.



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Von Veritatis

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