Von Kai Rebmann
Es ist ein Fall, der fassungslos macht und ein Schlaglicht auf die Zustände in diesem Land wirft. Eine 60-jährige Frau stirbt in ihrer Wohnung und wird zwei Tage nach ihrem Tod jeder Würde beraubt. Aber auch die Angehörigen haben nicht nur den Verlust eines geliebten Menschen zu betrauern, sondern sind für den Rest ihres eigenen Lebens gezeichnet.
Birgit P. arbeitete als Telefonistin im Kundenservice einer IT-Firma. Dass sie dies von zu Hause aus tat, wurde ihr womöglich zum Verhängnis. Da sich die ansonsten als zuverlässig bekannte Mitarbeiterin zwei Tage lang nicht bei ihrem Arbeitgeber gemeldet hatte, verständigte dieser den Bruder der Frau. Nachdem auch dieser seine Schwester nicht erreichen konnte, verständigte der Mann die Polizei.
Beim Eintreffen an der Wohnung von Birgit P. in Berlin-Spandau gaben die Beamten dem Bruder zu verstehen, dass er draußen zu warten habe. Zu diesem Zeitpunkt konnte freilich noch nicht ausgeschlossen werden, dass die Frau womöglich einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist und es sich bei der Wohnung in diesem Fall um einen Tatort handeln würde. So weit, so verständlich. Was aber danach geschah, ist schlichtweg ein Skandal.
Nachdem ein herbeigerufener Orthopäde aus Schöneberg Fremdeinwirkung als Todesursache ausgeschlossen und den Leichnam freigegeben hatte, wurden die Angehörigen informiert, dass sie die Wohnung jetzt betreten könnten. Zwei Geschwister und ein Schwager von Birgit P. machten sich also auf den Weg nach Spandau – und erlebten dort den Schreck ihres Lebens.
Die Situation wird von den Kollegen der „Berliner Zeitung“ wie folgt beschrieben: „Sie fanden die Verstorbene vor dem Sessel, in gehockter Haltung und vollständig unbekleidet. Der Kopf war nach vorn gesunken.“ Es sei ein Anblick gewesen, der den Angehörigen „wohl für immer im Gedächtnis bleiben“ wird. Ein Onkel von Brigit P. fühlte sich laut eigener Aussage sofort an Artikel 1 des Grundgesetzes erinnert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Das Entsetzen der Angehörigen richtet sich wohlgemerkt nicht gegen die Tatsache, dass die Tote entkleidet wurde. Dies ist bei einer Leichenschau nicht nur normal, sondern praktisch unumgänglich, um die Todesursache bestimmen zu können. Man stelle sich jedoch die Frage, „ob der Arzt, die Tote nicht wenigstens mit einem Laken oder eine Decke hätte abdecken können“, so der Onkel.
Antworten erhofften sich die Angehörigen nicht zuletzt von der Ärztekammer Berlin. Sowohl der Bruder als auch der Onkel der Verstorbenen schickten mehrere Mails an die Ärztekammer, in denen sie die Vorgänge rund um das Ableben ihrer Schwester bzw. Nichte schilderten – eine Reaktion blieb jeweils aus. Am 19. März 2024, gut vier Wochen nach dem ersten Schreiben, versuchte es der Onkel schließlich telefonisch und erhielt eine weitere Woche später tatsächlich eine Antwort, die einen frösteln lässt:
„Aus datenschutzrechtlichen Gründen sind wir daran gehindert, weitere Information zum Fortgang des Verfahrens zu erteilen. Wir weisen zudem darauf hin, dass die Ärztekammer Berlin Patient:innen, Angehörige oder Dritte nicht bei der Durchsetzung etwaiger Ansprüche unterstützen kann. […] Bitte beachten Sie, dass personenbezogene Daten auf Grundlage von Artikel 6 Absatz 1 Unterabsatz 1 Buchstaben c und e sowie Artikel 9 Absatz 1 und 2 Buchstaben a und j DSGVO in Verbindung mit den Paragrafen 5, 6, 7 Absatz 1 Nummer 2 und 57 ff. Berliner Heilberufekammergesetz (BlnHKG) verarbeitet werden. […] Wir danken Ihnen für das in uns gesetzte Vertrauen.“
Kein Wort des Bedauerns, kein Ausdruck von Empathie oder Menschlichkeit. Dafür umso mehr Bürokratie, Paragrafen, Belehrungen und Gendergerechtigkeit. Vor dem Hintergrund einer derart kaltherzigen „Antwort“ spielt es schon fast keine Rolle mehr, dass die Ärztekammer darauf verweist, dass die ersten Mails angeblich an eine falsche Adresse gesendet worden seien.
Es brauchte erst weitere Nachfragen der „Berliner Zeitung“, an die sich die zunehmend verzweifelten Angehörigen in der Zwischenzeit offenbar gewandt hatten, ehe von Seiten der Ärztekammer mehr als nur Bürokraten-Deutsch zu vernehmen war.
Man habe zwar Verständnis für die Angehörigen, hieß es dann doch noch, aber: „Ärzt:innen, die eine Leiche nicht abdecken, begehen keine Berufspflichtverletzung. Sie würden sich vielmehr mit der Verwendung einer Abdeckung aus dem Haushalt der verstorbenen Person unter Umständen schadenersatzpflichtig machen.“
Wohlgemerkt: Die Polizei, die vor Ort war und den Arzt erst hinzugerufen hat, hätte aus dem Bestand ihres Erste-Hilfe-Koffers, den jede Streife standardmäßig mit sich führt, eine entsprechende Abdeckung zur Verfügung und – wenn es gar nicht anders gegangen wäre – den Angehörigen anschließend auch in Rechnung stellen können. Alles wäre wohl besser gewesen, als eine Tote nackt in ihrer Wohnung liegenzulassen.
Überhaupt scheint das Monetäre in diesem Fall eine sehr wichtige Rolle gespielt zu haben, zumindest für den Arzt, der die Leichenschau durchgeführt hat. Der Orthopäde brachte es tatsächlich fertig, noch am selben Abend den Bruder der Verstorbenen anzurufen und diesen zu fragen, an welche Adresse er die Rechnung in Höhe von 191,33 Euro schicken könne.
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Kai Rebmann ist Publizist und Verleger. Er leitet einen Verlag und betreibt einen eigenen Blog.
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