„Bonesmashing“, „Chroming“, „Cinnamon Challenge“ – auf TikTok werden Kinder dazu gedrängt, sich selbst oder sich gegenseitig zu verletzen. Es gibt erste Tote. Über ein soziales Netzwerk, das wirkt wie eine Droge.

von Pauline Schwarz

„Für den Notfall“ – mit diesen Worten überreichte mir meine Mutter in der sechsten Klasse mein erstes eigenes Handy. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie wahnsinnig cool und erwachsen ich mich gefühlt habe, als ich es zum ersten mal aufdrehte: mein gebrauchtes Sony Ericsson S700. Es passte zwar kaum in eine Hosentasche und erinnerte von seiner Fotoqualität im Vergleich zu heute auch eher an eine Platten- als an eine Digitalkamera, aber man konnte damit telefonieren – und das war alles was ich mir erträumt hatte. Kinder und Jugendliche von heute, die ein iPhone haben bevor sie überhaupt in der Lage sind Mama zu sagen, können sich das vielleicht nicht mehr vorstellen, aber wir hatten damals kein mobiles Internet – und das ist auch gut so. 

„Ja, ja – Oma erzählt wieder vom Krieg“, werden die anderen Apollos jetzt sagen. Aber wie sagt man in Berlin so schön: Dit juckt mir nich. Im Gegenteil: Manchmal bin ich richtig froh, dass ich in unserer Redaktion mit Abstand die älteste bin. Und das nicht nur, weil die meisten anderen bis sie zwanzig waren keinen anderen Bundeskanzler kannten als Angela Merkel. Oder weil sie nie eine deutsche Mark in ihr Sparschwein gesteckt haben – die sind zum Teil nämlich jünger als der Euro. Nein. Ich bin vor allem deshalb froh, dass ich die Apollo-Oma bin, weil wir uns in der Grundschule noch mit anderen Dingen beschäftigt haben, als mit unserem Social Media-Account. Wir haben Fangen gespielt, uns gerauft oder um Go-Go’s gefeilscht, anstatt wie hypnotisiert auf einen kleinen Kasten zu starren.

Und genau das tun heutzutage schon fünf, sechs oder sieben Jahre alte Kinder. Ihre Eltern kaufen ihnen Smartphones und Tablets, damit sie endlich mal die Klappe halten. Anders kann ich mir zumindest nicht erklären, warum man so kleine Kinder stundenlang unbeaufsichtigt am Handy daddeln und im Internet-Surfen lässt. Obwohl inzwischen bekannt sein sollte, dass man sie damit auch Gefahren aussetzt. Und damit meine ich jetzt keine Abo-Fallen oder einen durch die Konsum-Sucht gestörten Schlafrhytmus, sondern Schlagzeile wie diese: „Schüler würgen Mädchen bei Internet-Mutprobe bis zur Bewusstlosigkeit“. Und diese „Schüler“ der Kreuzberger Hunsrück-Grundschule waren aus der 5. und 6. Klasse, also grade mal zwischen 10 und 12 Jahre alt. 

Die meisten riskieren vor allem ihr eigenes Leben

Die Kids haben vor gut einer Woche beinah ihre Mitschülerin umgebracht – nicht aus böser Absicht, sondern für Likes und Klicks auf TikTok. Die chinesische Social Media-Plattform spielt Jugendlichen nämlich nicht nur Unmengen an bekloppten Tanz-Videos, Schminktutorials und Glamour-Influencer in ihre Timelines, sondern auch sogenannte „Challenges“ – wie hier die „Blackout-Challenge“. Und die haben es, anders als die meisten „Mutproben“, die wir in unserer Kindheit durchgespielt haben, in sich. Während man in meiner Jugend auf dem Schulklo Brausepulver durch die Nase zog, Zahnpaste in fremde Schlüssellöcher schmierte oder eine Wasserbombe auf Passanten warf, muss man sich oder andere heute schon in Lebensgefahr bringen. 

Heutzutage machen Jugendliche nämlich keine Klingelstreiche mehr, sie spielen zum Beispiel das „Knockout Game“. Dabei filmt man sich für TikTok, während man auf der Straße wahllos einen Passanten angreift – man versucht ihn mit einem festen Schlag oder Tritt wie in einem Kampfsporttunier auszunocken. Ähnlich kriminell ist der „Kia Boyz“-Trend. Dabei knackt man dank Online-Anleitung in Minuten ein Auto von Hyundai oder seiner Tochtermarke Kia und rast dann in dem geklauten Wagen durch die Stadt. Wie der Stern im Juni 2023 berichtete, sorgte dieser Trend weltweit nicht nur für zehntausende Autodiebstähle, sondern auch schon für Tote und Verletzte – verursacht von Minderjährigen. 

Die meisten riskieren aber nicht das Leben fremder Menschen, sondern vor allem ihr eigenes. In Coesfeld, einer Kreisstadt in Nordrhein-Westfalen, starb im letzten Jahr zum Beispiel ein 15-jähriger Junge bei der sogenannten „Deo Challenge“. Dabei atmet man so lange wie möglich und so viel wie möglich den Dampf von Sprüh-Deos ein. Es klingt so verrückt, dass man es kaum glauben mag, aber das war kein Einzelfall – kurz zuvor ist bereits eine 17-Jährige aus Schleswig-Holstein bei der „Mutprobe“ erstickt. Während in England ein 11 Jahre alter Junge bei einer ähnlichen Challenge einen Herzinfarkt erlitt. Er absolvierte die TikTok-Challenge „Chroming“, bei der man die Dämpfe üblicher Haushaltsmittel, wie etwa von Reinigungsmitteln oder Nagellack-Entferner einatmet, um High zu werden. 

Es gibt zig verschiedene solcher „Mutproben“: die „Sleepy Chicken Challenge“, bei der man Hühnchen in Fiebersaft anbrät, die „Tide Pod Challenge“, wo man allen ernstes bunte Waschmittelkapseln schluckt oder auch die „Cinnamon Challenge“. Letztere klingt erstmal harmlos, weil man nichts giftiges zu sich nimmt, sondern nur versucht einen großen Löffel Zimt ohne Wasser zu schlucken. Doch das ist wegen der Beschaffenheit des Gewürzes mehr oder weniger unmöglich, die meisten Menschen ersticken beinah bei dem Versuch – außerdem kann es Lungenentzündungen auslösen. Im Jahr 2015 soll ein vierjähriger Junge im US-Bundesstaat Kentucky sogar einen Anfall erlitten und daraufhin verstorben sein. 

Und wenn Sie jetzt denken, es wird heute nicht mehr irrer, muss ich Sie enttäuschen. Da wäre zum Beispiel noch die „Fire Challenge“, bei der Jugendliche sich selbst mit einer brennbaren Flüssigkeit – meist Alkohol – übergießen und anzünden. Die meisten „Absolventen“ stellen sich dabei in die Dusche, um sich danach direkt löschen zu können – doch es kam trotzdem schon zu zahllosen Schwerverletzten. In Detroit starb eine Zwölfjährige beinahe bei der TikTok-Challenge. Sie verbrannte sich laut Detroit News 49 Prozent ihrer Haut und musste im Krankenhaus viermal operiert werden. Einen ähnlichen desaströsen Ausgang könnte auch der „Bonesmashing“-Trend haben – bei dem man sich absichtlich mit einem Gegenstand, zum Beispiel einem Hammer – ins Gesicht schlägt. In der Hoffnung, dass die Fraktur, wenn sie geheilt ist, eine attraktivere Gesichtsform hinterlässt. 

Dass es tatsächlich Menschen gibt, die sich selbst so gefährliche und durchgeknallte Dinge antun, zeigt, wie anfällig Kinder und Jugendliche im Internet sind. Ohne aufmerksame, liebevolle Eltern und Kontrolle, werden sie zum Opfer ihrer kindlichen Naivität – und ihrer eigenen Unsicherheit. Denn grade Kinder in der Pubertät leiden häufig unter Selbstwertproblemen, weil sie mit der Veränderung ihres Körpers nicht gut zurechtkommen. Genau dann sind sie besonders anfällig für die scheinbar so glücklichen und perfekten Influencer, die ihnen verkaufen, dass sie wegen „Bonesmashing“ – und nicht wegen Schönheits-Ops, Essstörungen und Beauty-Filtern – so super aussehen. Und genau dann sind sie auch bereit, für den TikTok-Fame allen möglichen Unsinn zu machen. Sie wollen unbedingt cool und beliebt sein – und riskieren dafür sogar ihr Leben.

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Von Veritatis

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