Analyse „Gegen Hass und Hetze: SPD“? Ein genauer Blick auf die Europa- und Kommunalwahlergebnisse zeigt: Der derzeitige politische Kurs der Sozialdemokraten und von Olaf Scholz ist ehrenwert, ein bisschen unehrlich und am Ende dumm


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Ausgabe 24/2024

Wer in Brüssel die große Koalition, in Berlin die Ampel und überhaupt alle Gesellschaftsschichten irgendwie zusammenhalten will, muss in einer polarisierten politischen Lage scheitern: SPD-Wahlkampfabschluss mit Kevin Kühnert, Lars Klingbeil, Katharina Barley, Olaf Scholz und Saskia Esken in Duisburg, 8. Juni

Wer in Brüssel die große Koalition, in Berlin die Ampel und überhaupt alle Gesellschaftsschichten irgendwie zusammenhalten will, muss in einer polarisierten politischen Lage scheitern: SPD-Wahlkampfabschluss mit Kevin Kühnert, Lars Klingbeil, Katharina Barley, Olaf Scholz und Saskia Esken in Duisburg, 8. Juni

Foto: Hesham Elsherif/Anadolu/Getty Images

Bereits einen Tag nach den Europawahlen scharten sich die Ampelparteien um die strahlende Wahlgewinnerin Ursula von der Leyen (CDU), um ihr zu einer zweiten Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin zu verhelfen. Denn mit den Stimmen der Sozialdemokraten, der Liberalen und der Grünen würden die Christdemokraten weiter über eine komfortable Mehrheit verfügen und wären nicht auf die Unterstützung aus dem rechten Lager um Marine Le Pen und Giorgia Meloni angewiesen. Die große Koalition in Brüssel bliebe intakt.

Warum drängt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf eine möglichst rasche Wiederwahl Ursula von der Leyens? Die schnelle Besetzung der europäischen Führungsposten und die Fortsetzung des Programms „Weiter-so“ wü

sche Wiederwahl Ursula von der Leyens? Die schnelle Besetzung der europäischen Führungsposten und die Fortsetzung des Programms „Weiter-so“ würden ihm eine quälende Wahlanalyse ersparen und die aufbrechende Debatte über die „Superklatsche“ vom vergangenen Sonntag im Keim ersticken. Noch nie hat die SPD seit Kaiser Wilhelms Zeiten bei einer „reichsweiten“ demokratischen Wahl so schlecht abgeschnitten wie am 9. Juni 2024.Müsste Scholz jetzt nicht handeln wie Macron?Auch der schwachen SPD-Führung um Lars Klingbeil, Saskia Esken, Kevin Kühnert und Katarina Barley käme es sehr gelegen, wenn sie mit der bewährten Formel, man dürfe jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen, zur Tagesordnung übergehen könnte. Lieber „nach vorne schauen“ als die (Ab-) Gründe der Wahlniederlage zur Kenntnis zu nehmen und den unterirdischen Wahlkampf („Gegen Hass und Hetze: SPD“) rechtfertigen zu müssen. Augen zu und durch.Aber kann das gut gehen? Müsste Scholz nicht in Wahrheit so glasklar handeln wie Emmanuel Macron, der angesichts des desaströsen Wahlergebnisses die einzig richtige Konsequenz zog und Neuwahlen binnen weniger Wochen ansetzte? Oder wäre das – angesichts der zu erwartenden Ergebnisse – politischer Selbstmord? Kämpfen oder aussitzen? Liefern die Zahlen vom vergangenen Sonntag eine Entscheidungshilfe?Jetzt auch noch an das BSW verlorenDie SPD, obwohl seit Langem geschwächt, hat bei den Europawahlen nochmals in alle Richtungen verloren: zu resignierenden Nichtwählern, zur Union, zur FDP, zu den Grünen, zu den Linken und jetzt auch noch zum Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Das heißt, die Partei, die den „sozialen Zusammenhalt“ predigt wie keine zweite, kann ihn selbst am wenigsten gewährleisten. Sie zerbröselt. Bei den Europawahlen verlor sie in allen 16 Bundesländern zwischen 0,5 und zwei Prozentpunkten, doch dort, wo auch das BSW antrat (egal ob im Osten oder im Westen), verlor sie doppelt so viel. Die SPD redet gern davon, sie wolle ihr Profil schärfen und kämpfen, aber sie tut das Gegenteil: Sie verwässert ihr Profil und moderiert, anstatt zu kämpfen.Es ist im Grunde ganz einfach: Wer in Brüssel die große Koalition verlängern, in Berlin die Ampel zusammenhalten und alle Gesellschaftsschichten irgendwie unterhaken will, der muss in einer polarisierten politischen Lage naturgemäß scheitern. Warum? Nehmen wir den Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg als Beispiel. Für viele Menschen, die dort leben, sieht die Welt außerhalb aus wie rassistisch-reaktionärer Bullshit. In Friedrichshain-Kreuzberg wählten trotz starker Verluste noch knapp 32 Prozent die Grünen, 13 Prozent die Linken, 5,7 Prozent Martin Sonneborns Satire-Partei, 7,3 Prozent die EU-euphorische Jugendpartei Volt. Die CDU dagegen wurde mit 6,8 Prozent abgestraft, die AfD landete bei 4,3 Prozent.Kreuzberg-Friedrichshain versus Marzahn-HellersdorfUmgekehrt stellt sich die Situation im Bezirk Marzahn-Hellersdorf in Berlin dar: Dort lag die AfD mit 25,3 Prozent in Front, gefolgt vom Bündnis Sahra Wagenknecht mit 17,1 Prozent und der CDU mit 16,4 Prozent. Die Grünen dümpeln bei 6,4 Prozent, die Linken bei sieben Prozent. Am interessantesten ist freilich das Ergebnis der SPD. Sie erreicht in beiden Bezirken ein gleich schwaches Ergebnis: 10,2 und 10,3 Prozent. Das heißt, die SPD überlebt in beiden Welten, aber in beiden mehr schlecht als recht. Sie degeneriert zu einer identitätslosen Vermittler-Partei, während die anderen Parteien in extrem polarisierten Milieus entweder stark oder schwach sind. Denn sie haben Profil.Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Vergleich der Hamburger Bezirke Eimsbüttel und Billbrook. In den Szenevierteln Eimsbüttels erzielten die Grünen trotz herber Verluste 37,6 Prozent, während sie im Arbeiter- und Migrantenkiez Billbrook abgeschlagen bei 8,6 Prozent landeten. In Eimsbüttel kam die AfD auf magere 2,7 Prozent, in Billbrook erreichte sie den sechsfachen Wert: 15,9 Prozent. Die CDU wählten in Eimsbüttel neun, in Billbrook 19,3 Prozent. Das Bündnis Sahra Wagenknecht erzielte in Billbrook 7,8 Prozent, in Eimsbüttel 3,4 Prozent. Nur die SPD punktete in beiden Bezirken wieder relativ ausgewogen – aber für Hamburger Verhältnisse eben schwach: 23,7 Prozent in Billbrook, 15,1 Prozent in Eimsbüttel.Die Erkenntnis, dass die SPD in allen Milieus zu Hause ist, dort aber so stark bröckelt, dass sie nirgendwo mehr den Ton angeben kann, betrifft auch die Kommunalwahlen vom 9. Juni. Bei den Kreistagswahlen in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern lieferten sich CDU und AfD ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Werten zwischen 25 und 40 Prozent, während die SPD ins Mittelfeld oder gar unter ferner liefen abrutschte. Selbst in ihrem „Stammland“ Brandenburg erreichte die SPD in keinem der 18 Kreise und kreisfreien Städte die 20-Prozent-Marke, nicht einmal in den Städten Potsdam oder Cottbus, während die AfD in 16 von 18 Kreisen die Nase vorn hatte. In Mecklenburg-Vorpommern, wo die SPD mit Manuela Schwesig die Ministerpräsidentin stellt, kam sie bei den Kreistagswahlen auf dürftige 12,7 Prozent, in Schwerin auf 16,8, in Rostock auf 14,1 Prozent. In Sachsen-Anhalt ein ähnliches Bild, in Sachsen wird’s dann endgültig zappenduster mit einstelligen Wahlergebnissen bis unter die Fünf-Prozent-Grenze.Ein bequemer Weg für Ursula von der LeyenDie Kommunalwahlen im Westen bestätigen den Befund. In den SPD-regierten Ländern Saarland und Rheinland-Pfalz überholte die CDU die SPD. Die Wahlkreis-Karten färbten sich auch deshalb schwarz, weil in beiden Westländern das Bündnis Sahra Wagenknecht antrat. In der Pfalz verlor die SPD 4,6 Prozentpunkte auf nur noch 18,8 Prozent, während das BSW auf Anhieb sieben Prozent erreichte und die AfD sich um 5,1 Prozentpunkte auf 17,4 Prozent verbesserte. In Pirmasens verlor die SPD gar 6,3 Prozentpunkte, während das BSW 8,2 Prozent holte und sich die AfD um 8,9 Prozentpunkte auf 24,2 Prozent steigerte. Das heißt: Im Westen zeigte sich deutlicher noch als im Osten, dass die These vom Wählertausch zwischen BSW und AfD Unfug ist. In Wahrheit ist es so, dass BSW und AfD in vielen Landkreisen gleichzeitig hohe Zugewinne erzielen, Gewinne, die aus anderen Quellen stammen müssen, teilweise aus der ehemaligen Wählerschaft der SPD.Natürlich ist es ehrenwert, in einer durch krasse Vermögens-, Einkommens- und Bildungsunterschiede polarisierten Gesellschaft auf Zusammenhalt zu pochen und das große Unterhaken einzufordern, aber politisch ist es auch ein bisschen unehrlich und am Ende sogar dumm. Unehrlich, weil eine Partei, die in den vergangenen 25 Jahren 21 Jahre lang regiert hat, durch ihre Politik einen besseren Zusammenhalt hätte fördern können, und dumm, weil in einer polarisierten Situation, also in Gefahr und größter Not, der Mittelweg der Tod sein könnte. Statt Ursula von der Leyen einen bequemen Weg zur zweiten Kommissionspräsidentschaft zu bahnen, könnte die SPD ihr die Zustimmung verweigern – dann würde man sehen, ob sie sich trotz allem christdemokratischen Brandmauergerede den rechten EU-Fraktionen anbiedert, um gewählt zu werden. Oder soll über die Hintertür der EU der Boden für eine breite Deutschland-Koalition in Berlin bereitet werden? Eins aber funktioniert garantiert nicht: in Berlin gegen Friedrich Merz, Jens Spahn und Carsten Linnemann stänkern und in Brüssel deren Politik absegnen. Lars Klingbeils verzweifelte Ansage, die SPD werde jetzt kämpfen, müsste schon mit Taten unterfüttert werden.Selbst in Spanien sind die Konservativen an den Sozialisten vorbeigezogen, in Italien haben Giorgia Melonis Postfaschisten die sozialdemokratische PD weit hinter sich gelassen, auf der EU-Landkarte gibt es nur noch fünf Länder, die rot eingefärbt sind: Portugal, Schweden, Litauen, Rumänien und Malta, während in den großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Polen die Farben Schwarz und Blau dominieren. Was gibt es da noch zu verlieren?Olaf Scholz und das RisikoMacrons riskanter Schritt, die Nationalversammlung aufzulösen und noch im Juni neu wählen zu lassen, hat nicht dazu geführt, dass nun alle Franzosen gelähmt vor Angst auf die Rechten starren. Er hat ungeahnte Kräfte freigesetzt. Bereits am Montag gab es Aufrufe, Sozialisten, Grüne, Sozialdemokraten und Kommunisten sollten eine Volksfront bilden, um den Durchmarsch der Rechten um Marine Le Pens Rassemblement National und Marion Maréchals Reconquête zu verhindern. Als Muster dient ihnen NUPES, jenes Bündnis, das am 1. Mai 2022 auf Initiative des Sozialisten Jean-Luc Mélenchon gegründet wurde, um dem neoliberalen Präsidenten einen linken Regierungschef gegenüberstellen zu können. Das Bündnis schaffte zwar nicht den Sieg, brachte es im zweiten Wahlgang aber auf beachtliche 31,6 Prozent. Das würde auch diesmal nicht reichen, denn Le Pen und Maréchal erzielten bei den Europawahlen zusammen 37 Prozent, während Grüne, Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten nur 31,5 Prozent erreichten. Die zugespitzte Situation könnte aber weitere Bündnispartner auf den Plan rufen.Eine derart riskante Kampfstrategie ist von dem nüchtern-rational denkenden Olaf Scholz und seiner SPD nicht zu erwarten. Die Republik aufs Spiel setzen, um den Durchmarsch der AfD zu verhindern? Nein. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Also cool bleiben und abwarten. Scholz könnte zu Recht darauf verweisen, dass das NUPES-Bündnis sein Ziel 2022 nicht erreichte und die spätere Fraktionsbildung im Parlament an unüberbrückbaren Differenzen scheiterte (vor allem an Einsprüchen prominenter Sozialdemokraten).Was also ist in der jetzigen Situation die bessere Strategie? Ruhe bewahren oder Emotionen schüren? Konfrontation oder Kohäsion? Die jüngsten Wahlergebnisse verlangen nach einer klaren Entscheidung.



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Von Veritatis

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