Ob der vor zehn Jahren verstorbene FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher angesichts dieser exklusiven Nachricht die Druckmaschinen angehalten und den Aufmacher seines überregionalen Feuilletons komplett diesem Thema gewidmet hätte – versehen mit verbalen Superlativen und grandiosen Barbara-Klemm-Fotografien aus seligen Zeiten? Es bleibt ein Gedankenspiel.

So wurde aus der Nachricht nur eine Online-Meldung im Regionalteil: Suhrkamp bietet die leer stehende, schwer sanierungsbedürftige Villa des 2002 verstorbenen Verlegers Siegfried Unseld für 4,1 Millionen Euro zum Verkauf an. Der Artikel enthielt ein bemerkenswertes Detail: Am Donnerstag, den 6. Juni, sollte es ab zwölf Uhr „öffentliche Besichtigungen“ geben.

Das wäre die Gelegenheit gewesen, ein Stück bundesrepublikanische Literaturgeschichte zu durchschreiten. Dann hätte man mit eigenen Augen gesehen, was man womöglich nur aus der Zeitung und Bildbänden kennt. Man hätte sehen können, wie sich hier das Private und das Unternehmerische auf eine fast mystische Weise gegenseitig durchdrangen. Man kann es an jedem Gegenstand förmlich ablesen. Hier die hohen Bücherregale, unter den Füßen der tiefe blaue Teppich. Draußen die Treppe zum Garten, auf der sie alle standen: Frisch, Bernhard, Bachmann, Koeppen, Johnson und viele mehr.

Wo bleibt der Makler?

Doch es bildete sich keine Menschentraube vor dem Haus in der Klettenbergstraße 35. Das Frankfurter Bildungsbürgertum scheint das Interesse an Suhrkamp, das seit 2010 seinen Sitz in Berlin hat, verloren zu haben. Nur eine Frau mittleren Alters blickt auf die heruntergelassenen Rollläden. Das Gartentor ist nicht verschlossen, man könnte das Treppchen zur Haustür hinaufsteigen. Wie beim letzten Besuch im Herbst 2023, als man noch nicht wissen konnte, dass dies der letzte Kritikerempfang werden würde, den Suhrkamp dort jahrzehntelang – auch nach Unselds Tod – am Buchmesse-Mittwoch ausgerichtet hatte.

Das Efeu ist seitdem noch weiter gewuchert, es verschluckt geradezu Das Geisterhaus. Der Romantitel drängt sich gedanklich auf. Isabel Allendes Weltbestseller wurde 1982 von Unseld verlegt. Das Buch gilt noch immer als Paradebeispiel für belletristische Titel, die sehr wichtige, aber sehr schwer verkäufliche Bücher durch Querfinanzierung ermöglichen.

Die Frau sagt, sie habe die Meldung gelesen und wolle sich als literaturgeschichtlich Interessierte unter die Kaufinteressenten schmuggeln. Nur rauscht kein Makler von Engel & Völkers an. Man müsse, erfahren wir am Handy, einen persönlichen Termin vereinbaren; die öffentliche Besichtigung sei eine Falschmeldung gewesen.

Angepriesen wird das Objekt im 21-seitigen Exposé als „renommierte Villa Unseld“ – allerdings ohne Wärmepumpe. Das ist seltsam. Normalerweise werden Immobilien neutralisiert, es gibt keine Hinweise auf vorherige Eigentümerverhältnisse. Will man so nostalgische, steinreiche Suhrkamp-Fans anlocken?

Villa Unseld wird wohl abgerissen

Frankfurt kommt als Adressat jedenfalls nicht mehr infrage. „Es gab seitens der Stadt Gespräche und ein Erwerb wurde wohlwollend geprüft“, heißt es aus dem Kulturamt. Ein geeignetes Nutzungskonzept konnte nicht gefunden werden.

Es ist unschwer zu erkennen, dass im schicken Holzhausenviertel die Immobilienblase zwar nicht platzen, ihr aber im nächsten Jahr ein wenig die Luft ausgehen wird. Jetzt ist für den Verlag aus betriebswirtschaftlicher Sicht ein guter Zeitpunkt zum Verkauf. Dann wird die Villa vom Käufer aber wohl abgerissen werden, um auf dem Grundstück Luxuswohnungen hochzuziehen.

Ganz so nüchtern sieht das die Literaturblase naturgemäß nicht. Es gab überregionale Nachrufe auf die Villa, als sei Unseld ein zweites Mal gestorben. Auch auf regionaler Ebene trauern einige. Denn am 28. September ist Unselds 100. Geburtstag. Die Bürgerstiftung richtet zusammen mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, in dem das Suhrkamp-Archiv nunmehr liegt, eine Ausstellung im benachbarten Holzhausenschlösschen aus. Ein würdiger Ort. Den Schwerpunkt bilden die Briefe Unselds, ein Band mit bislang unveröffentlichten wird kurz zuvor erscheinen. Führungen durch die Villa seien geplant gewesen, oder zumindest erwünscht. Ganz so klar ist das nicht, aber nunmehr obsolet.

Ein Gerücht sorgt für weiteren Unmut: Die Verlegerwitwe Ulla Berkéwicz wolle den Geburtstag des Ehrenbürgers von Frankfurt lieber in Berlin begehen. Soll man darüber betrübt sein oder es so sehen wie der Suhrkamp-Autor Andreas Maier, der sehr gern in Frankfurt lebt? Aus dem Zug schickt er eine SMS: „Lieber ein konsequentes Ende. Es gibt kein Leben aus altem Applaus. Auch für die Stadt nicht. Leider.“



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Von Veritatis

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