Will man Konservative ärgern, bietet sich neben Veggie Day und Gendersternchen ein dritter Hebel: Reformideen zum Kindersport. „Weniger Dominanz des Wettkampfs, um Kindern Raum zur sportlichen Entwicklung zu geben?“ Da helfen weder trainingswissenschaftliche Belege noch Vorbildnationen; das Netz füllt sich sofort mit Hass. Der Wille, sich zu messen, das berühmte Verlierenlernen, die Ellenbogen im Kampf um die Ehrenurkunde – das sehen viele Deutsche, meist Männer, als Mantra der konkurrenzfähigen Nation. Und so heißt es nach fast jedem Großereignis, bei dem Deutschland schwächer abschneidet: „Die Kinder wollen nichts mehr leisten! Hört auf, so sensibel zu sein!“
Politisch sind solche Überträge vom Sport ins „echte Leben“ üblich, wissenschaftlich eher hohl. Warum hat etwa die Fitnessszene gerade im „faulen Deutschland“ so viel Zuspruch? Wir können anhand der Medaillenzahl nicht über Gesellschaft sprechen, sondern nur über Spitzensport. Wie der gelingt? Viele Kinder müssen Zugang finden, im Übergang zur Jugend dabeibleiben – und hochwertig trainiert und gefördert werden. Die ersten beiden Punkte funktionieren in autoritären Strukturen besser. Aber wer würde das eigene Kind in ein chinesisches Wasserspringer-Internat bringen?
Je mündiger die sind, die gewinnen sollen, desto bessere Argumente braucht es. Jugendliche flüchten hierzulande in Scharen aus dem System. Sie brauchen motivierende Träume und eine sichere Zukunft. 30 Trainingsstunden pro Woche müssen sich auszahlen: Bejubelt, auf der Straße erkannt zu werden, Medienpräsenz, sechsstellige Follower, ja Reichtum – das muss zumindest möglich sein. Realistischer gedacht braucht es außerdem Stipendien, um ein Leben nach dem Sport gut vorzubereiten. Bei uns gibt es Träume nur noch im Fußball – und für Mädchen überhaupt kaum. Berufliche Sicherheit? Polizei und Bundeswehr! Sexy ist das nicht gerade.
Deutschland kennt nur einen Sport: Fußball
Wir können nicht zum Sport nötigen – und der ist viel zu monothematisch. Sportschau ist Fußballfernsehen, trotz aller Großevents. Ansonsten haben wir in den olympischen Sportarten nur regionale und familiäre Blasen. Seriöse Debatten müssen sich daher um ein hochwertiges System und finanzielle Sicherheit drehen – gegen den Teufelskreis aus geringem sozialen Interesse, fehlenden Erwerbschancen und niedriger Beteiligung. Die Parole „Leistungsbereitschaft“ ist Unsinn.
Aber wissen das nicht eigentlich diejenigen, die prominent den Kulturverfall beklagen? Etwas vernebelt den sachlichen Blick, als müsste im Moment nationaler Sport-Schwäche eine tiefer liegende Angst als Wut entweichen. Hier geht es um die Frage: Wem gehört der Sport – und wer bestimmt, wie man sich verhält? Da wünscht sich manch einer die 1980er zurück, als Sport Domäne derjenigen war, die tolle Leistungen vollbrachten, während die anderen diesen Apparat erdulden mussten. Das war Selektion, einseitig und unfair. Nicht jeder konnte das schaffen.
Nun aber wendet sich das Blatt. Der Sport öffnet sich. Erst immer mehr für Frauen, dann für Menschen mit Behinderung, für Unbegabte, Hochgewichtige, Zugewanderte. Es gibt neue Perspektiven: Sport als Naturerleben, als Style und Trend, als Körper- und Selbsterfahrung. Sport ohne Training und Vergleich, nur für ein Lachen und eine Umarmung. Sport gehört endlich allen. Nicht jedes Kind muss an die Spitze, wenn man eine gesunde, bewegte, glückliche Gesellschaft will. Reformen, die das anerkennen, sind überfällig. Nur eine Minderheit wedelt mit dem Medaillenspiegel, getrieben von einer altbekannten Generationenangst: Das nicht mehr zählt, woran man glaubte. Es geht nicht darum, jemanden zu ärgern. Aber Sport verändert sich.
Wir können stolz sein auf unseren Sport. Wir versuchen, nett zu Menschen zu sein, kindliche Interessen zu achten, Missbrauch und Gewalt aufzuklären, den Jungen eine Stimme zu geben. Trotzdem waren in Paris nur neun Nationen erfolgreicher. Und bei aller Planbarkeit: Nur etwas weniger Pech im Kanu, Zehnkampf oder Hockey, dann stünde da Platz fünf oder sechs.