Wer vor noch gut einem Vierteljahrhundert in Suchmaschinen die Begriffe „Dritte Welt” und „Zweiter Weltkrieg” eingab, musste ernüchtert konstatieren, dass es da entweder keinen Treffer gab oder die Trefferquote äußerst dürftig ausfiel. Das hat sich mittlerweile geändert. Doch auch 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dürfte den wenigsten Zeitgenossen bekannt sein, dass die (meist erzwungene) Verstrickung der sogenannten Dritten Welt darin außerordentlich groß war. Vom 8. März bis zum 1. Juni 2025 läuft im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln (NS-DOK) eine erweiterte Ausstellung zum oben genannten Thema, deren Besuch sich für jeden lohnt, dem ernsthaft daran gelegen ist, Vorurteile abzustreifen sowie westlich geprägte Perspektiven und Ethnozentrismus zu überwinden. Ein Beitrag von Rainer Werning.
Kanonenfutter aus der “Dritten Welt“
Im Zweiten Weltkrieg kämpften mehr Soldaten aus der “Dritten Welt” als aus Westeuropa. Sowohl die faschistischen Achsenmächte als auch die Alliierten rekrutierten in ihren Kolonien Hilfstruppen und Hilfsarbeiter – meist mit Gewalt. Weite Teile der “Dritten Welt” dienten als Schlachtfelder und blieben nach Kriegsende verwüstet und vermint zurück. Allein China hatte mehr Opfer zu beklagen als die für den Krieg verantwortlichen faschistischen Mächte Deutschland, Italien und Japan zusammen. Hunderttausende Frauen waren Opfer sexueller Gewalt geworden – gedemütigt und ausgebeutet in Militärbordellen, welche die Kaiserlich-Japanischen Truppen in der asiatisch-pazifischen Region im Zuge ihrer Kriegführung aufgebaut und unterhalten hatten. Allein bei der Befreiung der philippinischen Hauptstadt Manila waren 1944/45 mehr Bombenopfer zu beklagen als in Dresden, Berlin oder Köln. Ohne ihren Willen waren die Filipinos und ihr Land als US-Kolonie in den Krieg hineingezogen worden. Manila war nach Warschau die am meisten zerstörte Hauptstadt während des Zweiten Weltkriegs.
So gravierend die Folgen des Zweiten Weltkriegs in der “Dritten Welt” auch waren, in der hiesigen Geschichtsschreibung wurden sie lange Zeit kaum beachtet – falls denn überhaupt. Dies zu ändern war und ist das Ziel des historischen Langzeitprojekts, mit dem das Rheinische JournalistInnen Büro in Köln in den 1990er-Jahren begann und das seit 2000 von dem gemeinnützigen Verein recherche international e. V. fortgeführt wird.
Karl Rössel, einer der Hauptinitiatoren und gemeinsam mit Christa Aretz Kurator der Ausstellung, erklärte denn auch in seiner Eröffnungsrede am 7. März:
„So findet sich zum Beispiel in vielen Schulbüchern der Satz, dass sich der Krieg erst mit dem Angriff der japanischen Luftwaffe auf den US-Stützpunkt Pearl Harbor ‚zum Welt-Krieg ausgeweitet habe’. Der Angriff auf Pearl Harbor war bekanntlich im Dezember 1941. Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Asien bereits vier Jahre lang Krieg und in Afrika sogar schon sechs Jahre lang. Für Menschen in Ostafrika begann der Zweite Weltkrieg bereits am 3. Oktober 1935. Denn an diesem Tag fielen 300.000 Soldaten unter italienischem Kommando in Äthiopien ein. Mussolini wollte in Ostafrika ein neues ‚Imperium Romanum’ gründen. Gegen die faschistischen Invasoren kämpften 250.000 äthiopische Soldaten und 500.000 Partisanen, und ab 1940 griffen auch Truppen aus zahlreichen britischen Kolonien ein. Bis zur italienischen Kapitulation auf diesem ostafrikanischen Kriegsschauplatz kamen schließlich Soldaten aus 17 Ländern und vier Kontinenten zum Einsatz. Trotzdem firmiert dieser Krieg nicht als ‚Welt‘-Krieg, wohl deshalb, weil er nicht in Europa stattfand, sondern in Afrika, und weil die meisten Beteiligten nicht Weiße, sondern Schwarze und Kolonialsoldaten waren.”
Mit Blick auf Asien führten die Kaiserlich-Japanischen Truppen bereits seit Anfang der 1930er-Jahre einen grausamen Eroberungsfeldzug gegen China, in dessen Verlauf die Nordostregion völkerrechtswidrig annektiert und in den Marionettenstaat Mandschukuo (er existierte vom 1. März 1932 bis zum 18. August 1945) umgewandelt wurde. Die über zweieinhalbtausend Jahre alte Stadt Nanjing war zu der Zeit die Hauptstadt der 1912 gegründeten Republik China. Bei deren Einnahme am 13. Dezember 1937 und in den darauffolgenden sechs Wochen begingen die japanischen Invasoren ein Massaker, das mit 300.000 Toten als eines der größten der Menschheitsgeschichte gilt.
Langjährige Recherchen
Nach zehnjährigen Recherchen in 30 Ländern Afrikas, Asiens und Ozeaniens erschien im Frühjahr 2005 das erste deutschsprachige Buch zum Thema („Unsere Opfer zählen nicht” – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Hamburg/Berlin: Verlag Assoziation A). 2008 folgten Unterrichtsmaterialien und 2009 die Produktion einer gleichnamigen (Wander-)Ausstellung, die seit ihrer Premiere in Berlin in mehr als 60 bundesrepublikanischen Städten und in der Schweiz zu sehen war. Eine englische Ausstellungsfassung tourt seit 2017 durch Südafrika. Für Mosambik wurde 2020 eigens eine portugiesische Version erstellt.
Zum Abschluss des Projekts wird die Ausstellung vom 8. März bis zum 1. Juni 2025 – rund um den 80. Jahrestag des Kriegsendes in Europa (am 8. Mai 2025) – noch einmal in einer erweiterten Fassung im Kölner NS-Dokumentationszentrum gezeigt – ergänzt um (lokal-)historische Fakten, die in anderen Ausstellungstädten und -ländern hinzugefügt wurden. In einem weiteren Ausstellungsteil werden zudem künstlerische Reflexionen aus Afrika, Asien und Ozeanien zu den Folgen des Zweiten Weltkriegs vorgestellt. Hierzu zählt auch eine Replik der „Friedensstatue” des koreanischen Künstlerehepaares Kim Seo-Kyung und Kim Eun-Sung, die an das Schicksal der im Zweiten Weltkrieg in japanische Militärbordelle verschleppten „Trostfrauen” und an sexualisierte Gewalt in den Kriegen von heute erinnert. Schließlich wird in Kooperation mit zahlreichen lokalen und überregionalen Initiativen ein umfangreiches Begleitprogramm mit mehr als 30 Veranstaltungen angeboten. Neben Vorträgen, Lesungen, Theateraufführungen und einer Filmreihe mit internationalen Gästen gehört dazu auch eine Hiphop-Tanzperformance aus Frankreich über Kolonialsoldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg.
Kontroverse um eine Statue
Ein zentraler Bestandteil der Ausstellung ist die Aufstellung der Friedensstatue „Đồng Mai“ vor dem Eingang zum NS-Dokumentationszentrum. Das vietnamesische Wort Đồng Mai vereint die Symbolik der widerstandsfähigen Pflaumenblüte (Mai) mit der Beständigkeit von Bronze (Đồng) und steht für unerschütterliche Stärke, Schönheit und Durchhaltevermögen der Friedensstatuen. Đồng Mai ist die Schwester der Friedensstatuen Ari (armenisch: „die Mutige“) in Berlin und Nujin (kurdisch: „neues Leben“) in Kassel. Auch diesmal erfolgte die Aufstellung der Friedensstatue erst nach einer Kontroverse mit dem Amt der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, die zunächst die Aufstellung vor dem NS-Dokumentationszentrum in Köln untersagt hatte.
Der Hartnäckigkeit von Christa Aretz und Karl Rössel, dem kongenialen Kuratorenteam der Ausstellung, und zahlreichen engagierten Mitstreitern war es schließlich zu verdanken, dass die Friedensstatue „Đồng Mai“ doch noch rechtzeitig am 8. März im Rahmen der Kundgebung zum Weltfrauentag enthüllt werden konnte und dort bis Anfang Juni aufgestellt bleibt. Anlässlich der feierlichen Enthüllung informierte Nataly Jung-Hwa Han, Vorstandsvorsitzende des in Berlin ansässigen Korea Verbands e. V., über den historischen Hintergrund der Friedensstatue und ihre Verbindung zur internationalen feministischen Bewegung der sogenannten „Trostfrauen“. Bei der Gelegenheit erinnerte Frau Han auch daran, dass die Aufstellung der Friedensstatue weltweit regelmäßig diplomatische Proteste und Einflussnahmen seitens der japanischen Regierung hervorruft.
Begonnen hatte alles im Jahre 1991, als mit Frau Kim Hak-Soon die Erste der ehemaligen „Trostfrauen“ mit ihrem Schicksal an die Öffentlichkeit trat und so das Ausmaß der japanischen Kriegsverbrechen aufdeckte. Daraufhin begannen die Mittwochdemonstrationen von ehemaligen „Trostfrauen“ vor der japanischen Botschaft in Seoul. Jeden Mittwoch rufen sie bis heute gemeinsam mit jungen Menschen lautstark nach „Entschuldigung und Entschädigung“. Als am 14. Dezember 2011 in Seoul die 1000. Mittwochfriedensdemonstration stattfand, errichtete man mit dem Wunsch auf eine angemessene Geschichtsbewältigung in Japan die erste Friedensstatue.
Sieger & Besiegte – wider das Vergessen
Gemeinhin wird in Europa der 8. Mai als das Ende des Zweiten Weltkriegs und als Tag der Befreiung gefeiert, wenngleich Ewiggestrige ihn als „Tag der Niederlage“ betrauern. Doch mit Blick auf die Asien-Pazifik-Region sollten noch über vier Monate vergehen, bis auch dort dieser Krieg tatsächlich endete.
Erst am 2. September 1945 unterzeichneten Außenminister Mamoru Shigemitsu und General Yoshijirô Umezu im Auftrag und in Vertretung von Kaiser Hirohito und der japanischen Regierung beziehungsweise stellvertretend für das Kaiserlich-Japanische Generalhauptquartier auf der in der Sagami-Bucht bei Tokio ankernden USS Missouri die Kapitulationsurkunde. In Südostasien schwiegen die Waffen erst am 12. September 1945, als in Singapur der britische Admiral Lord Mountbatten die Kapitulationsurkunde der Japaner entgegennahm.
„Warum die Kolonialgeschichte des Zweiten Weltkriegs bis heute weitgehend verdrängt und verschwiegen wird, begründet Professor Kum‘a Ndumbe, Politikwissenschaftler aus Kamerun, so“, hob Karl Rössel in seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung am 7. März zu Recht hervor: „‚Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs erweist sich, wie jede Geschichte, als die der Sieger, aber auch als die der Besitzenden und Wohlhabenden. Deutschland und Japan gehören trotz ihrer militärischen Niederlagen in der Geschichtsschreibung zu den Siegern. Denn auch wenn die Historiographie in beiden Ländern eine kritische Befragung und Korrekturen hinnehmen musste, werden ihre Bevölkerungen doch als Menschen gleichen Ranges wahrgenommen. Diejenigen aber, die nach dem Krieg vergessen wurden, als ob sie während des Krieges gar nicht existiert hätten, die mit ihren eigenen Kindern die Geschichte neu erlernen müssen, ohne eigene Taten in dieser Geschichtsschreibung wiederzufinden, gehören zu den eigentlichen Verlierern. Als Verlierer und ohne eigene Stimme, so leben bis heute noch Hunderte Millionen Menschen mit ihren Nachkommen in Afrika, Asien, Lateinamerika, in Australien und in der Pazifikregion.‘“
Bleibt letztlich als Wermutstropfen: Wenn diese ebenso ausführliche wie lehrreiche und akribisch erstellte Ausstellung Anfang Juni schließt, ist ungeklärt, ob und in welcher Weise sie weitergeführt wird. Gesichert scheint jedenfalls, dass das Archiv für alternatives Schrifttum (afas) in Duisburg die von recherche international e. V. gesammelten historischen Materialien auch nach Abschluss des Langzeitprojekts weiterhin verfügbar hält. Auf diese Weise bleibt zumindest ein Hort bekannt, wo angehende Historiker mit einem Hang zu mehr Kosmopolitismus und weniger Ethnozentrismus Nektar saugen können, um auch und gerade hiesige Schulbücher entsprechend umzuschreiben beziehungsweise zu erweitern.
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