Dass man beim Stichwort «Nationalsozialistischer Untergrund» schnell an Geheimdienste denkt, ist bei informierten Zeitgenossen üblich. Nun sind neue Fakten aufgetaucht, die einen Machtkampf in der BRD-Stasi belegen – wegen Beate Zschäpe.

von Jürgen Elsässer

«Zwölf Anrufe beim Geheimdienst» – schon die Schlagzeile der Bild vom 30. März verrät, wie eng die Kontakte von Beate Zschäpe zu den Staatsbehörden waren, denn diese Telefonate wurden von der angeblichen NSU-Terroristin ausgerechnet in der brisantesten Situation ihres Lebens getätigt: Als sie sich am 4. November 2011 auf der Flucht befand, und zwar auf der Flucht vor der Polizei. Am selben Tag waren ihre Freunde Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Eisenach erschossen aufgefunden worden, war ihre gemeinsame Wohnung in Zwickau in Flammen aufgegangen. Anstatt das Eintreffen der Feuerwehr abzuwarten, suchte die damals 36-Jährige das Weite, hetzte kreuz und quer durch die Republik.

Dass die Behörden in diesen dramatischen Stunden den Kontakt zu ihr suchten, konnte man übrigens schon 2012 in COMPACT lesen. Demnach «hatte sie auf ihr privates Handy eine ganze Reihe von Anrufen bekommen, und zwar sowohl von der Polizeidirektion Südwestsachsen als auch von einem Handy aus dem sächsischen Innenministerium», hieß es in COMPACT-Spezial Nr.1 Nationalsozialistischer Untergrund. Fünf Jahre später gaben wir anlässlich des bevorstehenden Urteils gegen Zschäpe vor dem Oberlandesgericht München eine COMPACT-Edition NSU: Die Geheimakten heraus. «Von sächsischen Polizeidienststellen wurde Beate Zschäpe am Tag ihrer Flucht (…) insgesamt 30 Mal auf ihrem Mobiltelefon angerufen», schrieben wir zusammenfassend.

Ein Tanz am Strand

Neu am aktuellen Artikel von Bild ist, dass es auch in die umgekehrte Richtung Anrufe gab: «Zschäpe rief auf der Flucht zwölf Mal eine Nummer der Verfassungsschutzabteilung des Innenministeriums von Thüringen an.» Das Blatt spekuliert: «Wollte sie Schutz, Hilfe, Rat, sich stellen? Drohte sie gar mit Enthüllungen? Oder: War sie Informantin der Geheimen, wie oft vermutet wird?» Letzteres wird sich nicht mehr beweisen lassen, denn der Verfassungsschutz hat alle Unterlagen über den NSU geschreddert. Aber bevor wir diese Aktenvernichtung analysieren: Zschäpes eigenes Verhalten erweckt zwangsläufig den Verdacht, dass sie eine V-Frau war.

Beate und das BKA
Polizisten im November 2011 auf Beweissuche am abgefackelten Haus in Zwickau. Im kleinen Bild: Die nahezu unzerstörte Ceska-83.

Rückblende, vier Monate vor ihrer Flucht: Im Sommer 2011 ist Zschäpe im Urlaub auf Fehmarn und beteiligt sich mit zwei Dutzend anderer Touristen am öffentlichen Fitnesskurs in Sichtweite der Ostsee. Eine Kamera des NDR hält die Szenen fest, Anfang April 2013 gingen die Aufnahmen über den Sender. Halb Deutschland schaute zu, und viele fragten sich: War das wirklich die gefährlichste Frau der Repu­blik, die Staatsfeindin Nummer 1? Zschäpe habe das Fernsehteam gut sehen können, erläuterte der NDR den Hintergrund der Aufzeichnung. «Wir standen schon lange vor Beginn der Kursstunde mit unserer Kamera am Strand», erinnerte sich der Autor des Inselporträts. «Es wäre leicht gewesen, einfach wieder zu gehen.» Doch Zschäpe, die zu diesem Zeitpunkt seit 13 Jahren im Untergrund lebte, blieb und ließ sich filmen. Von Befangenheit, von Angst, von Konspiration keine Spur. Warum zeigte sie sich so sorglos vor einer TV-Kamera? Was machte sie so sicher, dass das nicht zu ihrer Verhaftung führen würde? Wusste sie, dass ihr nichts passieren konnte, weil sie von der BRD-Stasi gedeckt wurde?

Auch ihr Verhalten am 4. November 2011 spricht nicht dafür, dass sie sich selbst für eine gesuchte Terroristin hielt. Vergessen wir nicht: Bis zu diesem Tag wussten die Strafverfolgungsbehörden nichts von einer Organisation NSU. Das Zwickauer Trio war wegen Bombenbasteleien Ende der neunziger Jahre gesucht worden, ansonsten wären ihnen nur Bankeinbrüche nachzuweisen gewesen. Im Wohnmobil der beiden erselbstmordeten Uwes soll zwar die Dienstpistole der 2007 in Heilbronn ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter gefunden worden sein. Aber die Verbindung zu den neun Tötungsdelikten vorher, die bis dahin als «Döner-Morde» firmierten, erbrachten erst die Beweisstücke, die sich in der Zwickauer Wohnung der Drei fanden. Zschäpe soll sie in Brand gesetzt haben, um alles Belastende zu vernichten. Tatsächlich aber war es erst der Brand, der sie überhaupt belastete. Von den Toten im Wohnmobil führte nämlich keine Spur nach Zwickau, sie waren dort nicht gemeldet und hatten falsche Papiere bei sich. Hätte Zschäpe ruhig abgewartet, wären die Fahnder ihr nicht so schnell auf die Spur gekommen.

Sie soll den Brand gelegt haben, um Beweismittel zu vernichten. Aber genau das schaffte sie nicht, denn die Flammen konnten der Ceska-83, die bei allen neun Ausländermorden verwendet worden war, natürlich nichts anhaben. Wusste sie nicht, dass Stahl nicht brennt? Und: Warum schaffte sie dieses Corpus Delicti nicht aus der Wohnung, als sie floh? Stattdessen nahm sie angeblich 15 Umschläge mit den Paulchen-Panther-Bekennervideos mit und steckte sie vor dem Haus in den Briefkasten. Tatsächlich ist aber diese für sie so belastende Versandaktion keineswegs geklärt – und zwar paradoxerweise, obwohl Zschäpe sie vor Gericht zugegeben hat.

Im Abschlussbericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses heißt es dazu: «Zweifel an dieser Aussage weckt zum einen, dass sich nur auf einer der 15 von den jeweiligen Adressaten bekannt gemachten Zusendungen eine Spur Beate Zschäpes in Form eines Fingerabdruckes befand. Darüber hinaus wurde mindestens die NSU-Bekenner-DVD an die Nürnberger Nachrichten nicht per Post übersandt. Zum anderen befanden sich in demjenigen Briefkasten (…) nach Auskunft des am 5. November 2011 leerenden Postbediensteten lediglich drei oder vier Umschläge. Des Weiteren nahm keiner der Zeugen, die Beate Zschäpe (…) sahen, eine Tasche wahr, in der die DVDs hätten transportiert worden sein können.» Preisfragen: Da Zschäpe höchstens einen Teil der 15 DVDs verschickt haben kann und die beiden Uwes zu diesem Zeitpunkt schon tot waren – wer hat dann die anderen eingesteckt?

Fraktionskampf im BKA

Der Verdacht, dass Zschäpe vom Geheimdienst gedeckt wurde, erhärtet sich, wenn man sich anschaut, wie dieser alle Spuren verwischte. Das betrifft zum einen die Aktenvernichtung beim Bundesverfassungsschutz in Köln, die ab 11. November 2011 – nur eine Woche nach dem Auffliegen des Trios – mit 90 Mitarbeitern auf Hochtouren lief. Abteilungsleiter Axel Minrath, Deckname Lothar Lingen, legte selbst Hand an, damit alles innerhalb von 24 Stunden durch den Reißwolf gehen konnte. Zur Vertuschung datierte er das illegale Schreddern auf den Januar 2011 vor, so dass der zeitliche Zusammenhang nicht auffiel. Der damalige Verfassungsschutz-Chef Heinz Fromm behauptete, dass die Aktion ohne sein Wissen durchgezogen worden sei, und trat am 2. Juli 2012 zurück. Wenn ihm seine Fachabteilung die Aktenvernichtung verschweige, könne er niemandem mehr vertrauen – «niemandem», zitiert ihn jetzt Bild.

Beate und das BKA
Zeuge An­dreas Temme im Mai 2015 vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss. Der V-Mann des Verfassungsschutzes verstrickte sich mehrfach in erhebliche Widersprüche.

Dass Fromm sich nicht herausgeredet hat, sondern dass im BKA tatsächlich eine Seilschaft an ihm vorbei agierte, wird in der weiteren Recherche des Springerblattes deutlich. Kronzeuge ist ein Heinz-Dieter Meier, Abteilungsleiter 5 beim Bundespolizeipräsidium in Potsdam. Er erhält im Dezember 2011 vom BKA den Auftrag, die Telefondaten auf Zschäpes Handy wiederherzustellen. Diese waren im Zuge der erwähnten Säuberungsaktion ebenfalls gelöscht worden. Meiers Leute rücken am 8. Dezember 2011 beim BKA an – erhalten aber die Mitteilung, dass die Daten unrettbar verloren seien, da sie nicht archiviert worden sind. Meier schlägt Alarm: «Da dieses Prozedere nicht der üblichen Vorgehensweise entsprach, erteilte ich den Auftrag, die Festplatte des Arbeits-PCs des Mitarbeiters {der Zschäpes Handy gelöscht hatte} zu sichern.»

Meier schickte sofort einen Mitarbeiter aus der BKA-Nachbarabteilung in das Büro des Kollegen. «Dabei sahen sie auf dem Bildschirm des PCs den Löschvorgang laufen.» Das heißt: Der Mann hatte zuvor gelogen, als er behauptete, alles sei weg. Vielmehr war er erst jetzt im Begriff, die Daten verschwinden zu lassen. Meiers Leute griffen zu. Die Kopie von Zschäpes Handy-Speicher konnte wieder hergestellt werden – aber alles ist bis heute unter Verschluss.

Der Vorgang zeigt, dass es innerhalb des BKA zwei Fraktionen gibt: Die einen wollten die Datenlöschung mit Hilfe der Bundespolizei-Spezialisten verhindern, die anderen fortsetzen. Zu letzteren gehörte nicht nur der auf frischer Tat ertappte Mitarbeiter, sondern auch seine Auftraggeber im KI 26, dem Kriminaltechnischen Institut des BKA, und zumindest ein Teil der BKA-Spitze, die bis heute leugnet, die Zschäpe-Telefondaten erhalten zu haben. Meiers Aussage steht dagegen.

Eine andere Geschichte

Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos fühlten sich vom Geheimdienst geschützt. Deswegen tanzte sie so ausgelassen auf Fehmarn. Die Illusion zerbarst, als sie am 4. November 2011 vom Tod ihrer Freunde erfuhr. Die Pumpgun schoss zwei Kugeln in deren Köpfe, und zwei Patronenhülsen wurden gefunden. Da keiner der beiden nach dem zweiten Schuss noch repetieren und damit die Hülse auswerfen konnte, musste es einen dritten Mann gegeben haben – den Mörder. Kurz danach brannte es bei Zschäpe. Verdächtig sind die sogenannten Handwerker, die in ihrem Haus seit Tagen herumwerkelten. Sollte auch sie liquidiert werden? Die Frau geriet in Panik und floh. Verzweifelt versuchte sie, Kontakt zu jener Fraktion des Geheimdienstes aufzunehmen, die sie bisher geschützt hatte. Das gelang nicht. Die andere Fraktion hatte schon die Bekennervideos verschickt. Sie musste sich stellen, um das nackte Leben zu retten.

Keine Beweise

Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages aus dem Jahr 2016, Seite 964:

«An keinem einzigen der 27 Tatorte der dem NSU zugerechneten vielen Straftaten – sowohl bezogen auf die Sprengstoffanschläge, die Ceska-Morde und den Polizistenmord als auch bezogen auf die noch vorhandenen Asservate der begangenen Banküberfälle – wurde eine DNA-Spur gesichert, die beim Abgleich Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos oder Beate Zschäpe zugeordnet werden konnte. Auch an den bei den Morden verwendeten Tatwaffen, die im Brandschutt der Wohnung in Zwickau aufgefunden wurden, konnte keine DNA der drei festgestellt werden.»

Der damalige grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele:

«Wir wissen aber auch nicht mit Sicherheit, ob Böhnhardt oder Mundlos die Täter waren. Es gibt Indizien, dass sie sehr eng damit zu tun hatten. Aber dass sie am Abzug waren, das ist in fast allen Fällen bis heute nicht bewiesen.» (Taz, 3. November 2014)

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Von Veritatis

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