Die Bauern besprühen ihre Felder und im Supermarkt fragt man sich: Kann ich Spargel noch essen? Was Pestizide sind, wem sie nützen und welche Schuld wir selbst eigentlich an den Umweltfolgen tragen, erklärt Nick Reimer im Wochenlexikon


Am intensivsten wird Chemie in der Obstwirtschaft eingesetzt. Darunter leiden auch die Bienen

Foto: Maisie Cousins


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wie Ackergift

Jetzt im Frühling sind sie wieder häufig im Einsatz: Bauern, die auf ihren Feldern „Pestizide“ versprühen. Der Begriff ist ein Synonym für „Pflanzenschutzmittel“, Landwirte bedienen sich chemischer Substanzen, um ihre Arbeit zu erleichtern und die → Produktivität zu steigern. Pestizide sollen Fraßfeinde von jungen Trieben abhalten – etwa Insekten – oder Konkurrenten um Platz und Wasser auf den Feldern, die Ackerwinde, Schachtelhalme oder Giersch. Sprachlich haben solche Mittel ihren Ursprung im Englischen, wo „pest“ übersetzt „Schädling“ bedeutet. Das Prinzip ist aber älter als die englische Sprache: Bereits die Sumerer nutzten vor 4.500 Jahren Schwefel zur Bekä

or 4.500 Jahren Schwefel zur Bekämpfung von Insekten und Milben, auch in China wurden vor mehr als 3.000 Jahren arsenhaltige Substanzen gegen „Schädlinge“ eingesetzt, wie archäologische Funde dokumentieren. Heute ist Chemie auf dem Acker Alltag, nach Erhebung des Umweltbundesamtes werden in der deutschen Landwirtschaft jährlich 7,3 Kilogramm je Hektar versprüht.Bwie BiolandwirtschaftWenig überraschend besitzt die eingesetzte Chemie oft gravierende Auswirkungen auf die Umwelt. Denn natürlich bekämpfen Pestizide nicht nur „Schädlinge“, sondern auch „Nützlinge“ – Insekten oder Ackerpflanzen, die Landwirten helfen, Marienkäfer beispielsweise, die Blattläuse fressen. Zudem halten sich die Pestizide nicht an Ackergrenzen: Wind und Wasser transportieren sie hinfort, sie reichern sich in Grundwasser oder Biotopen an. Besonders problematisch ist das für die Ökolandbauern: Sie dürfen nur Wirkstoffe einsetzen, die natürlich vorkommen oder naturidentisch sind. Deshalb kann man bei Ökoprodukten sicher sein, dass sie frei von Pestiziden sind. Allerdings ist dadurch der Ertrag beim Ökobauern geringer, ergo müssen seine Produkte teurer als die Massenware sein. Und nicht selten gefährden Umweltgifte auf den Nachbaräckern den Bioanbau.Fwie Fungizide„Pestizid“ ist der Oberbegriff von → Ackergiften – tatsächlich unterteilen sich diese in viele verschiedene Untergruppen. „Fungizide“ beispielsweise sind solche Chemikalien, die Pilze und deren Sporen abtöten. Der Chemieriese BASF verkauft ein solches unter dem Handelsnamen Revyona, eingesetzt wird es gegen pilzliche Schaderreger in Kern- und Steinobst, bei Kartoffel, Raps oder Zuckerrübe. Die chemische Formel der eingesetzten Substanz Mefentrifluconazol lautet so: C18H15ClF3N3O2, das ClF steht für das giftige Chlortrifluorid. Eine weitere Untergruppe sind die Herbizide: Mittel gegen „Unkräuter“, also alles, was nicht der eigene Mais, das eigene Getreide, die Sonnenblumen sind. Als „Molluskizide“ werden Mittel gegen Schnecken bezeichnet, „Akarizide“ richten sich gegen Milben. Es gibt sogar Mittel gegen Nagetiere: „Rodentizide“. Am meisten Leben auf dem Gewissen haben aber die „Insektizide“: Sie tragen dramatisch zum Artenschwund bei und richten ein gezieltes → Insektensterben an.Gwie GlyphosatDas weltweit am häufigsten eingesetzte Herbizid ist Glyphosat, eine chemische Verbindung aus der Gruppe der Phosphonsäuren. Es wirkt „nicht-selektiv“ gegen Pflanzen: Alles Gewächs stirbt ab, das mit der Chemie in Kontakt kommt. Ausnahmen bilden Feldpflanzen, die gentechnisch verändert sind: Ihnen wurde eine „Glyphosatresistenz“ eingepflanzt. Für die Bauern ist das praktisch, weil sie auf eine mechanische Unkrautbekämpfung verzichten können. Seit 1974 im Einsatz, werden in Deutschland heute mehr als ein Drittel aller Äcker mit dem Mittel behandelt. Es steht unter Verdacht, krebserregend zu sein: 2021 verurteilte ein US-Gericht den Glyphosat-Hersteller Monsanto rechtskräftig zu 20,5 Millionen Dollar Schadenersatz: Der Kläger, ein an Krebs erkrankter Hausmeister, hatte jahrzehntelang Glyphosat genutzt. In der EU ist es bis 2033 → zugelassen.Iwie Insektensterben„Insektizide“ sind solche, die Ackerpflanzen vor Fraßfeinden, also Insekten, schützen sollen. Beispielsweise wirken „Neonicotinoide“ als Nervengifte: Nehmen Insekten diese Stoffe über Nektar oder Pollen auf, verlieren sie den Orientierungssinn, was dazu führen kann, dass Honigbienen ihren Bienenstock nicht mehr finden. Bauern werden die Wirkung anders beschreiben: Rapsstängelrüssler, Gefleckte Kohltriebrüssler und Rapsglanzkäfer sind eine echte Plage im Rapsfeld, sie schmälern den Ertrag erheblich. Es sei denn, die Landwirte nutzen „Danjiri“ oder „Mospilan SG“ – zwei Insektizide aus der Wirkstoffgruppe der Neonicotinoide. Eine andere Wirkstoffgruppe sind die „Pyrethroide“, die etwa Kopf-, Filz- oder Kleiderläuse töten. Indirekt führt auch → Glyphosat zum Insektentod: intensive Landwirtschaft und Monokulturen verschärfen den Nahrungsmangel für Insekten zusätzlich. Studien zeigen, dass die Population von mehr als 40 Prozent aller Insektenarten weltweit zurückgeht.Owie ObstanbauMehrere Supermarkt- und Discounterketten sind diesen Frühling von einer Heidelbeer-Rückrufaktion betroffen, weil deren Heidelbeer-Sorten den „Rückstandhöchstgehalt für den Wirkstoff Phosmet“ überschreiten. Am intensivsten wird Chemie in der Obstwirtschaft eingesetzt. Behörden ermitteln die Intensität des Pestizideinsatzes durch den „Behandlungsindex“. Im Apfelanbau lag der im Jahr 2020 bei 28,2: Das bedeutet, dass die Äpfel 28,2 mal mit der maximalen Menge gespritzt wurden, die der Gesetzgeber gestattet. Real könnte es auch 35 mal sein, wenn die Apfelbauern nicht bei jedem Spritzgang die volle Tankmischung einsetzten. In der Rangliste folgte 2020 Wein mit einem Behandlungsindex von 17,1, Hopfen mit 13,7, Kartoffeln mit 12. Wer sicher sein will, dass keine Chemie eingesetzt wurde, kaufe Obst aus → Biolandwirtschaft.Pwie ProduktivitätKonventionelle Bauern nutzen Pestizide in der Regel, weil sie müssen: Einerseits sind die Gewinnmargen bei Milch, Getreide oder Äpfeln ausgesprochen gering. Andererseits arbeiten viele Landwirte sieben Tage die Woche. Mit den „Pflanzenschutzmitteln“ können sie höhere Erträge erzielen und sich bestimmte Arbeitsschritte auf dem Feld – etwa das Jäten von Unkraut – ersparen. Studien zeigen, dass Pestizide die Ernteverluste durch Schädlinge und Krankheiten um bis zu ein Drittel reduzieren. Außerdem steigt die Qualität mancher Produkte: Behandelte Äpfel sehen frisch und knackig aus, anders als die unbehandelten. Ohne Pestizide wäre die industrielle Landwirtschaft mit ihren großen Feldern, schnellen Fruchtfolgen und den Monokulturen oft nicht wirtschaftlich, der weltweite Einsatz hat seit 1990 um 80 Prozent zugenommen. Es gibt aber auch gegenläufige Tendenzen: Dänemark hat den Pestizideinsatz um 40 Prozent reduziert, Schweden sogar um 75 Prozent. Der indische Bundesstaat Sikkim hat 2016 Pestizide komplett verboten, auch Kirgistan will auf → Biolandwirtschaft umstellen.Uwie UrinGerade für den Kleingarten gibt es viele umweltfreundliche Alternativen, um Pflanzen vor Fressfeinden zu schützen. Im westafrikanischen Niger haben Forschende beispielsweise herausgefunden, dass vergorener Urin Schädlinge vertreibt und gleichzeitig ein guter Dünger ist. Damit keine Krankheitserreger auf die Pflanzen gelangen, muss der Urin aber ein bis zwei Monate in der Sonne vergoren werden, was ziemlich stinkt. Auch vergorene Brennesseln eignen sich – so genannte „Brennesseljauche“ – um gegen Schnecken oder Blattläuse zu schützen. Auch Rapsöl, Lavendelöl oder Knoblauch helfen den Pflanzen. Bauern können über eine vielfältige Fruchtfolge das Risiko von Schädlingsbefall und Krankheiten reduzieren. Auch Blühstreifen oder Hecken helfen. Allerdings schmälert das die → Produktivität der Bauern: Hecken verkaufen sich nicht.Vwie VergiftungEine Studie kam im Jahr 2020 zu dem Ergebnis, dass es weltweit jährlich etwa 385 Millionen Vergiftungen beim Menschen durch Pestizide gibt, circa 11.000 davon tödlich. Immer wieder werden Wirkstoffe in der EU verboten, weil sich herausgestellt hat, dass sie das Erbgut des Menschen schädigen, krebserregendend sind oder reprotoxisch wirken, also die Fortpflanzung gefährden. Trotzdem produzieren Konzerne wie Bayer, BASF oder Alzchem solche Stoffe immer noch, um sie zu exportieren. Der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten beim Bundesarbeitsministerium hat 2024 die wissenschaftliche Empfehlung für eine neue Berufskrankheit aus_gesprochen: „Parkinson-Syndrom durch Pestizide“. Diese Anerkennung kommt bei Personen in Betracht, die Herbizide, Fungizide oder Insektizide langjährig und häufig beruflich angewendet haben. Seit den 1980er Jahren wurden Unkrautvernichtungsmittel mit dem Parkinsonsyndrom in Verbindung gebracht, bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau haben mehr als 8.000 Fälle eine Anerkennung beantragt.Zwie ZulassungBevor ein Wirkstoff in einem Pestizid in der EU eingesetzt werden darf, muss er von der Europäischen Kommission genehmigt werden. Zuständig dafür ist die EFSA, die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit: Die Hersteller müssen ein wissenschaftliches Wirkstoff-Dossier einreichen, das dann von einer Zulassungsbehörde eines Mitgliedslandes geprüft wird. Die beauftragte Behörde bewertet die Informationen und interpretiert sie mit Blick auf das Risiko für Mensch und Umwelt. Wird ein Wirkstoff zugelassen, gilt die Genehmigung meist für zehn Jahre. Vor einer Verlängerung müssen neue Daten in die Entscheidung einbezogen werden. In einem zweiten Schritt müssen nationale Behörden das Produkt testen, in das der Wirkstoff eingebaut wurde. In Deutschland ist das u.a. das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit BVL.



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Von Veritatis

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