Die neue Regierungskoalition macht sich mitschuldig an dem Vorgehen Israels in Gaza. Sie könnte eingreifen, tut es aber nicht. Ein Gastkommentar

Seit dem 2. März blockiert die israelische Regierung die Einfuhr humanitärer Güter nach Gaza. Kein Trinkwasser, keine Nahrungsmittel, keine Medikamente, keine Hygieneartikel, kein Strom, kein Treibstoff. Das israelische Militär bombardiert das Gebiet und vertreibt die Bevölkerung. Die humanitäre Lage ist katastrophal.

Während in Gaza Palästinenser verhungern, begeht die deutsche Politik feierlich das 60-jährige Jubiläum diplomatischer Beziehungen zu Israel. Außenminister Johann Wadephul (CDU) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trafen in den vergangenen Tagen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher und Ministerpräsidenten des Landes, Benjamin Netanjahu. Auch wenn sie „Kritik“ an Israels Politik äuß

n des Landes, Benjamin Netanjahu. Auch wenn sie „Kritik“ an Israels Politik äußern: Der demonstrative Schulterschluss mit der israelischen Staatsführung ist Ausdruck einer von den Menschenrechten und vom Völkerrecht inzwischen völlig losgelösten deutschen Nahostpolitik.In diesem Licht sind auch die Äußerungen von Bundeskanzler Friedrich Merz zu sehen, der im Februar 2025 ankündigte, „Mittel und Wege“ zu finden, Netanjahu trotz Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) einen Besuch in Deutschland zu ermöglichen. Anknüpfend an die Politik der Ampelregierung bestätigt der im April ausgehandelte Koalitionsvertrag den Trend einer weiteren Abkehr vom Völkerrecht.Placeholder image-1Auf Seite 127 beginnt der relevante Abschnitt mit dem üblichen Bekenntnis zum „Existenzrecht Israels“. Diese Formel ist hierzulande nahezu sakrosankt, völkerrechtlich jedoch unzutreffend: Das Existenzrecht kommt nicht Staaten zu, sondern Menschen und Völkern. Israel besitzt als UN-Mitgliedstaat selbstverständlich alle Rechte und Pflichten eines souveränen Staates. Was im Koalitionsvertrag hingegen fehlt, ist die Anerkennung der Rechte der Palästinenser. Auch sie besitzen, wie Israelis, ein unveräußerliches Recht auf Leben, Sicherheit, Gerechtigkeit und Würde.Plausibles Risiko für einen Völkermord in GazaIm Koalitionsvertrag folgt eine Verurteilung des Angriffs der Hamas am 7. Oktober 2023. Die von Israel begangenen zahlreichen Völkerrechtsverbrechen hingegen finden keine Erwähnung. Ebenso fehlt jegliche Bezugnahme auf die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Januar 2024, dass ein plausibles Risiko für einen Völkermord in Gaza besteht, infolgedessen das Gericht im Januar, März und Mai präventive Maßnahmen zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung anordnete.Auch das IGH-Gutachten vom Juli 2024 sucht man vergebens: Darin wird Israels gesamte Besatzung als rechtswidrig eingestuft. Der IGH kam zu dem Schluss, dass Israel das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser verletzt und gegen das völkerrechtliche Verbot der Apartheid verstößt. Dass dies im Koalitionsvertrag unerwähnt bleibt, ist wenig überraschend.Placeholder image-3Eine Anerkennung dieser Tatsachen würde auch das im deutschen Diskurs tief verankerte Narrativ ins Wanken bringen, Israel sei „die einzige Demokratie im Nahen Osten“. Sie würde offenlegen, dass dieses Bild auf politischem Wunschdenken beruht. Stattdessen wird Israels Vorgehen als legitime „Selbstverteidigung“ zur „Gewährleistung der eigenen Sicherheit“ gerechtfertigt. Auch noch 18 Monate nach Kriegsbeginn übernimmt der Koalitionsvertrag damit unhinterfragt das offizielle israelische Narrativ. Dabei ist der Begriff juristisch schlicht falsch. Gaza ist kein souveräner Staat, sondern Teil des von Israel rechtswidrig besetzten Gebietes – wie das IGH-Gutachten vom Juli 2024 bestätigte.Die Beweislage für massive, systematische Kriegsverbrechen ist erdrückendHinzu kommt: Die Beweislage für massive, systematische Kriegsverbrechen ist erdrückend. Dazu zählen die fortlaufende Bombardierung von Zivilisten, auch in sogenannten „Schutzzonen“, wahllose und unverhältnismäßige Gewalt, das Töten von Journalisten und Gesundheitspersonal sowie der gezielte Einsatz von Hunger als Kriegswaffe und die systematische Zerstörung des Gesundheitssystems, der landwirtschaftlichen Flächen und der zivilen Infrastruktur, einschließlich Wohnhäusern, Schulen, Moscheen und Kirchen, Wasseraufbereitungsanlagen, Stromnetzen und Straßen.Berichte über den Einsatz völkerrechtlich geächteter Waffen wie weißem Phosphor in dicht besiedelten Gebieten vervollständigen das Bild einer gezielten Vernichtungskampagne gegen eine weitgehend wehrlose Bevölkerung.Placeholder image-2Indem die neue Bundesregierung Israels Völkerrechtsverbrechen weder benennt noch verurteilt, entzieht sie sich der Verpflichtung zu konkretem Handeln. Ein umfassendes Waffenembargo, die Aussetzung militärischer Zusammenarbeit, wirtschaftliche Sanktionen (einschließlich eines Importverbots von Produkten aus israelischen illegalen Siedlungen), eine Neubewertung diplomatischer und akademischer Beziehungen sowie die Unterstützung internationaler Ermittlungen: All das wären Maßnahmen, die in vergleichbaren Situationen auf den Tisch kämen. Vor diesem Hintergrund wirkt die Aussage, die „humanitäre Lage im Gazastreifen müsse sich grundlegend verbessern“, wie eine leere Floskel.Schon unter der vorherigen Bundesregierung und der damaligen Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) war sie zu hören – ohne konkrete Folgen. Ganz anders die genozidalen Drohungen zahlreicher israelischer Politiker: Ihren Worten folgten Bombenangriffe, Hungerblockaden und systematische Vertreibung. Durch das Unterlassen wirksamer Gegenmaßnahmen macht sich Deutschland nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich mitschuldig: Als Vertragsstaat der UN-Völkermordkonvention und des Römischen Statuts ist Deutschland verpflichtet, Völkerrechtsverbrechen zu verhindern und zu stoppen.Toleriert und gefördert: die Annexionspläne der israelischen RegierungDer im Koalitionsvertrag folgende Ruf nach einer „verhandelten Zweistaatenlösung“ ist ebenfalls problematisch: Das IGH-Gutachten vom Juli 2024 stellt unmissverständlich fest, dass Israel rechtlich dazu verpflichtet ist, die Besatzung umgehend zu beenden, also unabhängig von jeder Verhandlung.Die UN-Generalversammlung legte hierfür sogar eine Einjahresfrist fest. Stattdessen verfolgt die israelische Regierung offen weiter ihre Annexionspläne – in Gaza und im Westjordanland, sowie in Teilen des Libanons und Syriens. Die Zweistaatenlösung ist zudem längst gescheitert – auch wegen der deutschen Nahostpolitik, die Siedlerexpansion, Siedlergewalt und zunehmende Vertreibung von Palästinensern zwar regelmäßig verurteilt, jedoch letztendlich toleriert und damit fördert.Placeholder image-4Schließlich knüpft der Koalitionsvertrag die weitere finanzielle Unterstützung für das UN-Hilfswerk für Palästinenser, UNRWA, an Reformforderungen. Diese Haltung ignoriert die klare Bestätigung der Rolle und des Mandats der UNRWA durch die UN. Israels Bestreben, die UNRWA zu delegitimieren, ist nicht neu – hat sich seit Oktober 2023 aber zu einer gezielten Sabotage ihrer Arbeit in Gaza und der West Bank ausgeweitet. Seit Ende Januar ist es der UNRWA per israelischem Parlamentsbeschluss untersagt, auf israelischem Boden, einschließlich des besetzten Ost-Jerusalem, tätig zu sein und Kontakt mit israelischen Behörden zu halten. Diese Politik muss im Zusammenhang mit dem laufenden Völkermord gesehen werden. Denn die Verunmöglichung der UNRWA-Arbeit trägt dazu bei, die Lebensgrundlagen der Palästinenser systematisch zu zerstören.Deutschland auf Trump-LinieSollte Deutschland – als mittlerweile größter Geldgeber der UNRWA infolge des Rückzugs der USA – seine Unterstützung reduzieren oder gar streichen, hätte dies katastrophale Folgen: Die humanitäre Krise würde sich in Palästina, aber auch in Jordanien, in Syrien und im Libanon weiter verschärfen. Mit dieser Haltung würde sich Deutschland den Positionen der Trump-Regierung annähern, anstatt sich Ländern wie Norwegen, Irland oder Spanien anzuschließen, die weiterhin tatkräftig die UN und ihre Unterorganisationen unterstützen. Und sie würde im Widerspruch zur Ankündigung im Koalitionsvertrag stehen, multilaterale Strukturen wie die UN und den IStGH stärken zu wollen.Deutschland unterstützt die genozidale Politik nicht nur indirekt – sondern aktiv. Von Beginn an zielte Israels Militäroffensive nicht auf die Rückholung der Geiseln oder den Schutz der eigenen Bevölkerung, sondern auf die systematische Zerstörung sämtlicher Lebensgrundlagen in Gaza, die Vernichtung und ethnische Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung – und in letzter Konsequenz: die Annexion und Besiedelung sowohl Gazas als auch des Westjordanlands. Diese Absicht äußerten israelische Regierungsbeamte immer wieder. Was wir heute erleben, ist die Eskalation einer seit Jahrzehnten betriebenen Politik – mit deutscher Unterstützung.Placeholder image-5Auch das muss sich die deutsche Politik eingestehen: Sie trägt ein entmenschlichendes Narrativ mit, das Apartheid mit dem „Existenzrecht Israels“ legitimiert, als „Sicherheitspolitik“ verkauft und Völkerrechtsverbrechen als „Selbstverteidigung“ umdeutet. Der 15. Mai – der Tag palästinensischen Gedenkens an die Nakba (1947–1949), an Flucht, Vertreibung und Kolonialisierung – ist auch eine Mahnung an Deutschland, sich endlich der historischen Realität zu stellen und die Nakba als einen bis heute fortlaufenden Prozess – als andauernde Nakba – zu verstehen und sich konsequent für Gerechtigkeit einzusetzen.Wer den Satz „Nie wieder ist jetzt“ ernst meint – wer sich zu internationalem Recht, zu Menschenrechten und zu Menschlichkeit bekennt –, muss, wie von UN-Experten selten so eindringlich wie am 7. Mai gefordert, umgehend handeln. Andernfalls werden wir alle Zeugen der Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung in Gaza und dem Westjordanland.



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Von Veritatis

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