Hat die Union ihre christlichen Wurzeln vollends gekappt? Die einfache Antwort für Friedrich Merz ist: Ja. So gab sie am Mittwochmittag im Bundestag.
Es geht um die Verfassungsgerichts-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf. Die steht in der Union wie auch in bürgerlichen Kreisen in der Kritik – wegen ihrer verqueren und falschen Argumente für eine Impfpflicht, wegen ihrer Ansichten zu Frauenquoten oder gegenderten Gesetzestexten – aber vor allem wegen ihrer kontroversen Position zur Abtreibung.
Dazu befragte die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch am Mittwoch den Bundeskanzler, ob er Brosius-Gersdorf angesichts ihrer Abtreibungs-Positionen wählen könnte, ob diese Wahl mit seinem Gewissen vereinbar wäre. Merz sagte: Ja.
Von Storch ist als strenggläubige Christin bekannt – und repräsentiert damit eine Wählergruppe, die mal fest in der Union verwurzelt war. Das ist offenbar Vergangenheit, wenn man Merz zuhört. CDU und CSU scheinen nur noch in der Macht verwurzelt. Er wird mit den skandalösen Aussagen der Juristin konfrontiert und segnet sie mit seinem „Ja“ ab, ohne groß nachzudenken.
Was für ein fatales Bild, das ausgerechnet Friedrich Merz zeichnet – er war gewählt worden, um die Union nach den konturlosen Merkel-Jahren wieder zu stabilisieren und vor allem stabil konservativ zu machen. Zumindest erhofften sich das seine Anhänger. Jetzt steht er mal wieder für das Gegenteil – die absolute Beliebigkeit, die nur an der Macht ausgerichtet ist. Für jeden Christdemokraten und Christsozialen, der die Bedeutung beider Parteinamen noch kennt, ein Alarmsignal.
Es ist der christliche Geist, der in unserem Grundgesetz die Menschenwürde prägt. Sie kann man letztlich nur aus dem Menschenbild des Christentums ableiten, in dem der Mensch nicht Sklave oder Diener Gottes, sondern Gottes Ebenbild ist. Diese Menschenwürde, hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, gilt auch für das ungeborene Leben. Brosius-Gersdorf soll auf Betreiben der SPD in Karlsruhe installiert werden, um genau diese Grundsatzentscheidung radikal umzuwerfen.
Sie will Abtreibungen nicht nur bis zur zwölften Woche legalisieren und damit den gesellschaftlichen Kompromiss der Straffreiheit ersetzen – sie ist auch der Meinung, dass menschliches Leben im Mutterleib gar keine Menschenwürde verdient hat, sie schlicht nicht genießt. Mit ihrer Argumentation ließe sich eine Abtreibung noch fünf Minuten vor der Geburt vertreten. Und noch viel mehr.
Es ist nicht nur die Haltung an sich – es ist auch das kalte Juristendeutsch, in dem man Untaten seit jeher besonders gut beschreiben kann, das schockiert. Mit einem Federstrich meint Brosius-Gersdorf, entscheiden zu können, für welches menschliche Leben die Menschenwürde nun gilt und für wen nicht. „Die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss“, schrieb die Juristin.
So ein Satz kann man zunächst auf ungeborene Kinder münzen – in der gleichen Eiseskälte könnte man ihn aber auch problemlos auf schwerbehinderte Menschen ausweiten. Oder auf Demenzkranke, oder auf Psychiatriepatienten – auch ihre Menschenwürde könnte man nach diesem Muster als „biologistisch-naturalistischen Fehlschluss“ wegwischen. Lebt die Alzheimer-Patientin, die ohne Hilfe nicht mehr überleben kann und stumm bettlägerig im Heim liegt, denn wirklich ein Leben im Sinne der Menschenwürde – mehr als ein Fötus? Oder ist auch ihre Würde ein „biologistischer Fehlschluss“? Was ist mit Menschen im Koma, die vielleicht nie wieder aufwachen? Ist ihre Würde auch so ein „Fehlschluss“ und könnte man bei ihnen nicht Organe sammeln gehen?
Es mögen krasse Beispiele sein, die absurd erscheinen, wenn man in der Idee der Menschenwürde verwurzelt ist. Aber wenn diese Menschenwürde nicht mehr unmittelbar mit menschlichem Leben zusammenhängt, wird plötzlich vieles möglich. Ein Fötus im sechsten Schwangerschaftsmonat ist jedenfalls nicht mehr oder weniger lebensfähig als ein schwer demenzkranker und bettlägeriger Senior, der von Pflegern gewaschen und gefüttert werden muss.
Man muss kein Christ sein, um diese Gefahr zu begreifen: Ist die Menschenwürde als universeller Maßstab erst einmal abgeschafft, sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Es ist genau diese Erkenntnis, die die bisherigen Urteile des Bundesverfassungsgerichts in kluger Abwägung auch ausdrücken. Brosius-Gersdorf wäre die Speerspitze derjenigen, die diese Menschenwürde über den Haufen werfen wollen. Das widerspricht dem Geist des Christentums und dem Geist des Grundgesetzes.
SPD, Grüne und Linke mögen diesen Fehler sehenden Auges machen wollen. Die Christdemokraten und die Christsozialen aber, bei denen das christliche Menschenbild schon im Namen steht, sollten sich genau darauf besinnen. Wenn der Kanzler und die Fraktionsführung es schon nicht können, muss es der einzelne Abgeordnete tun. Das Leben ist ein christlicher Wert – Feigheit ist keiner.
Die Abgeordneten der Union können eine Gewissensentscheidung treffen und gegen Brosius-Gersdorf stimmen. Sie können zeigen, dass sie noch in christlichen Werten und nicht nur in der Macht verwurzelt sind. Tun sie es nicht, kann die Union auch das C aus ihren Parteinamen streichen – das wäre dann nur konsequent.