In Zeiten wie den derzeitigen gewinnt die vermeintlich längst vergangene Zeit „des“ Exils neuerlich an Bedeutung, wie Wolfgang Benz mit seinem Buch Exil bewiesen hat. Walter Benjamin ist nicht zuletzt durch seinen Suizid in den Pyrenäen, beim verzweifelten Versuch, den Nazis zu entkommen, für das intellektuelle Leben im Exil geradezu ikonisch geworden. Das hat anhand der Konflikte um seine Nachlässe Robert Pursche in Umkämpftes Nachleben (Wallstein 2024) beeindruckend rekonstruiert.
Benjamins Pariser Adressbuch ist ausgerechnet dank der Gestapo erhalten geblieben. Dies ist nun Gegenstand von nicht weniger als 800 Seiten geworden. Die minutiösen biografischen Rekonstruktionen zu den über 300 Namen im Netzwerk des vermeintlich einsamen Solitärs sind zugleich ein Who’s who des Exils. Geradezu unvorstellbar ist die detektivische Arbeit, mit der Georg Wiesing-Brandes all das aufgespürt und ausgefaltet hat! Es beginnt mit Pierre Abrami und Theodor W. Adorno, der eine sein Arzt in Paris, der andere sein ferner Freund.
Das illustriert bereits, wie neben prominenten oder bis dato unbekannten Exilierten, französischen Intellektuellen und Hilfreichen beiderlei Geschlechts, Buchhandlungen, Verlage, Zeitungen, Zeitschriften, Taxiunternehmen oder Hotels nicht minder wichtig für das Überstehen waren. Abgeschlossen wird diese grandiose Mühwaltung durch eine detaillierte Darstellung von Benjamins Exil-Weg von Ibiza über Paris ins Lager und zum tödlichen Fluchtweg nach Port Bou. Es dauerte noch fünf Schreckensjahre von Benjamins Tod bis zum Ende des deutschen Terrors über Europa.
Nunmehr 80 Jahre danach ist das willkommene Gelegenheit für inzwischen allfällige Collage-Bücher. Hatte Volker Heise mit dem lapidar 1945 betitelten Band (Rowohlt Berlin 2024) aus Archivmaterial und Tagebüchern von Goebbels bis Kästner, von Sekretärinnen und Hausfrauen, Generalmajoren und Besatzungssoldaten das Jahr für Deutschland, vorzugsweise Berlin, sorgsam illustriert, erweitert nun Oliver Hilmes in versiertestem Florian-Illies-Duktus den Horizont zur Welt der Alliierten wie der Achsenmächte, führt in die Schlafzimmer von Trumans und Roosevelts, zu Stalin, dem die Tochter just am 9. Mai ihre Heiratsabsichten offenbart – und so fort.
Der Blick schweift von Thea Sternheim in Paris zu Erika Mann ins Verhörcamp von Bad Mondorf, von den Piloten mit den Atombomben zum Tenno, der die japanische Regierung zur Kapitulation auffordert, von Konrad Adenauer, der angeblich keine politischen Ambitionen hat, nach Berlin mit 31 Sommertagen über 25 Grad …
Und dann ist da noch Österreich, das Land der hitlerbegeisterten Naziopfer. Kurt Bauer holt es aus dem Windschatten der Weltgeschichte. Anhand der Schicksale von 25 Personen – bekannte, wie Ingeborg Bachmann oder Georg Stefan Troller, und unbekannte – erzählt er mit wohltuender Sorgfalt und Bedacht die so unterschiedlichen Lagen von Menschen damals, vertriebenen Sudetendeutschen, von Russen Vergewaltigten, befreiten KZ-Häftlingen, heimkehrenden Wehrmachtssoldaten, wie einer überlebenden Jüdin, die so schnell wie möglich weg aus Wien und in die USA will.
Was machte Voltaires Candide in den üblen Zeitläuften? Er ging in sein Gärtlein. Vor den Kohlanbau aber hat heute Gott oder die Globalisierung allerlei Viech und Kraut gesetzt, das den Kleingarten zum Abbild der großen Welt macht. Waschbären, die leider nicht auf dem Kopf von Daniel Boone blieben, sondern sich als „invasive Art“ verlustieren, Springkraut, gegen das kein Eintüten hilft, die Spanische Wegschnecke, gegen die kein No pasarán feit (und den Tigerschnegel mit ins Verderben zieht), die Kanadische Goldrute oder der Sachalin-Staudenknöterich – Stefan Schwarz weiß zu alledem zwar kaum Rat, aber humorvoll viel Trost!
Glamour ist nicht das, was man mit Gärtnern in Verbindung bringt. Zudem eine eher aussterbende Lebensart. Meint Ute Cohen – und tut alles, uns zu dessen Pflege zu aktivieren. Warum sich gegen die Tristesse der Welt und deren Fake-Remeduren nicht durch Glamour wappnen? Man sollte zuvor aber einsehen, dass Dragqueen-Fummel mit Glamour etwa so viel zu tun hat wie Hamburger mit gediegener Ernährung. Daher darf man nicht nur dessen Vokabeln, positive wie Balenciaga oder Vamp, negative wie Snapshot oder Achtsamkeit, kennen, sondern sollte überhaupt die Grammatik beherrschen, aus der Glamour sich semantisch übrigens ableitet.
Was dies Büchlein über das Wagnis, sich kunstvoll zu inszenieren, in einem fulminanten Catwalk durch die faszinierende Geschichte, Gestalten und Gesetze des Glamours zeigt: dass ihren Zauber zu verstehen (und anzuwenden) keine Zauberei ist.
Walter Benjamins Pariser Adressbuch. Eine Biographie des Exils im Spiegel Georg Wiesing-Brandes Nimbus 2025, 800 S., 48 €
Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte Oliver Hilmes Siedler 2025, 287 S., 25 €
Niemandsland zwischen Krieg und Frieden. Österreich im Jahr 1945 Kurt Bauer Residenz Verlag 2025, 271 S., 29 €
Fiese ViecherStefan Schwarz Mit Illustrationen von Katharina Greve, Aufbau 2025, 159 S., 20 €
Glamour. Über das Wagnis, sich kunstvoll zu inszenieren Ute Cohen zu Klampen 2025, 182 S., 22 €
Walter Benjamins Pariser Adressbuch. Eine Biographie des Exils im Spiegel Georg Wiesing-Brandes Nimbus 2025, 800 S., 48 €
Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte Oliver Hilmes Siedler 2025, 287 S., 25 €
Niemandsland zwischen Krieg und Frieden. Österreich im Jahr 1945 Kurt Bauer Residenz Verlag 2025, 271 S., 29 €
Fiese ViecherStefan Schwarz Mit Illustrationen von Katharina Greve, Aufbau 2025, 159 S., 20 €
Glamour. Über das Wagnis, sich kunstvoll zu inszenieren Ute Cohen zu Klampen 2025, 182 S., 22 €