Der italienisch-schottische Musiker Luca Prodan brachte in den 1980ern inmitten der Militärdiktatur den Post-Punk nach Argentinien. Dort wird er postum bis heute verehrt, in Europa kennt man seine Band Sumo kaum
Gott des argentinischen Punks – Luca Prodan steht in einer Reihe mit Maradona und Evita Perón
Foto: Claudina Pugliese
Auf dem Höhepunkt der argentinischen Militärdiktatur landete 1980 ein großer, dünner Mann auf dem Flughafen von Buenos Aires. Sein Name war Luca Prodan, ein schottisch-italienischer Rocker, der auf dem Hinflug sein letztes Methadon genommen hatte. Er sollte bald schon eine Band namens Sumo gründen, das Land mit Post-Punk bekannt machen und eine nationale Legende werden. Seine Songs werden bis heute Hunderte Millionen Mal gestreamt. Außerhalb Argentiniens ist er trotz seiner engen Verbindung zu Europa kaum bekannt. Geht es nach Armando Bo, wird sich das bald ändern. Der Co-Autor des Films Birdman produziert gerade ein Biopic. „Luca hat die Musikgeschichte verändert“, sagt Bo. „Hier in Argentinien ist er ein Gott.“
Prodan war wie
Prodan war wie eine Granate, die in die stickige Musikszene von Buenos Aires geworfen wurde, wo Musiker dazu neigten, ihr Haar lang zu tragen und sich oft durch versierte, aber wenig originelle Jazz-Fusion oder Rockmusik nudelten. „Die Leute waren hungrig nach Veränderung“, erinnert sich Sumos erste Schlagzeugerin, Stephanie Nuttal. „Und sie liebten Sumo. Es war anders. Sie waren bereit dafür. Und sie umarmten Punk – im großen Stil.“Prodan hatte eine eigenwillige Bühnenpräsenz, sein Gesang erinnerte an Ian Curtis, die Songs waren schwindelerregend funky. Sumo spielten nicht nur Post-Punk, sondern wechselten zwischen New Wave, Reggae und Cumbia. Doch weniger als ein Jahrzehnt nach seiner Ankunft und nicht lange nach dem Sturz der Militärjunta starb Prodan im Alter von nur 34 Jahren.Mit 17 türmte er vom schottischen Eliteinternat und löste eine Interpolsuche ausSchon bevor er in Argentinien gelandet war, hatte er ein turbulentes Leben geführt. „Ein Italiener, der in England neu geboren wurde und in Argentinien dann noch einmal“, sagt Peter Lanzani, ein in Argentinien sehr angesagter Schauspieler, der Prodan in dem Biopic spielen wird.Prodans wohlhabende Eltern lernten sich in China vor der Kulturrevolution kennen: Seine Mutter Cecilia Pollock war Erbin des größten Straßenbahnunternehmens in Shanghai, während sein Vater Mario ein bekannter Kunsthändler war. Im Jahr 1943 wurden die beiden von der japanischen Armee inhaftiert, schließlich flohen sie nach Italien, wo Prodan 1953 geboren wurde. Sein jüngerer Bruder Andrea – ein Musiker und Schauspieler – erinnert sich, dass die Kinder in Rom ein privilegiertes Leben führten und auf der Familienjacht im Mittelmeer segelten. Aber ihre aristokratische Lebensweise bedeutete auch, dass Luca im Alter von elf Jahren auf die angesehene schottische Privatschule Gordonstoun geschickt wurde – zeitgleich mit dem späteren König Charles. „Meine Eltern wollten eine gute Ausbildung für uns“, sagt Andrea. Für Luca ging das nach hinten los. „Er hatte Pech – Gordonstoun war schrecklich.“Mit 17 besann Luca sich auf das familiäre Talent, abzuhauen – und verkaufte der Legende nach ein Gewehr, um seine Flucht zu finanzieren, kehrte nach Italien zurück und löste eine internationale Suche durch Interpol aus. „Er war ein echter Rebell“, sagt sein Bruder. „Angeblich soll er sich auf dem Internat mit König Charles geprügelt haben. Ich weiß nicht, ob das nur eine Legende ist, aber passen würde es.“Nach einer Überdosis ging er nach Argentinien, wo es damals kaum Heroin gabAls Luca nach zweieinhalb Monaten ausfindig gemacht worden war, wurde er zur italienischen Armee eingezogen und desertierte. „Er war ständig auf der Flucht“, sagt Andrea. Also kauften ihm seine Eltern ein Haus im Londoner Stadtteil Chiswick, in der Hoffnung, dass er sich dort niederlassen würde. Auch das ging nach hinten los: Die Punk-Ära war angebrochen und Prodan wurde heroinabhängig. Seine erste Band nannte er 1977 die New Clear Heads. Nach einer Überdosis entschied er sich nach Argentinien zu gehen, wo sein ehemaliger Gordonstoun-Zimmergenosse Timmy McKern in den Hügeln von Córdoba lebte. In Argentinien, wo es damals kaum Heroin gab, hoffte er, clean zu werden.Die beiden hatten jedoch Mühe, ihren Lebensunterhalt mit McKerns Familienfarm zu bestreiten – stattdessen tranken sie und hörten Joy-Division-LPs, die Prodan mitgebracht hatte. „Luca sagte: ‚Ich habe mir die argentinische Musikszene genau angesehen‘“, erinnert sich McKern, der später Sumo managen sollte. „Lass uns eine Band gründen und etwas Geld verdienen. Das wird easy.“Mit McKerns Schwager Germán Daffunchio und seinem Freund Alejandro Sokol hatten sie fast eine Band zusammen – fehlte nur ein Schlagzeuger. Auf Besuch in London, um Instrumente zu kaufen, entschied Prodan sich, seine ehemalige Mitbewohnerin Stephanie Nuttal anzuheuern, die zuvor in der Post-Punk-Szene von Manchester aktiv gewesen war.Die Fans kamen zu den Shows seiner Band Sumo, obwohl die Verhaftung drohteDie Band ließ sich in Hurlingham nieder, dem englischen Viertel am Rande von Buenos Aires, und probte auf McKerns Farm in Córdoba, die Prodan Happy Valley nannte. „Wir probten die ganze Nacht, weil es dann kühler war“, sagt Nuttal. „Wir betranken uns, und wenn die Sonne aufging, gingen wir raus, stiegen in den Pool und gingen dann ins Bett.“Diese chaotische Energie floss in die frühen Songs von Sumo ein. Sie machten sich schnell einen Namen und traten in Buenos Aires in Kneipen und Bars wie dem Café Einstein auf, das Andrea als Ort beschreibt, „an dem sich alle Freaks vor der Diktatur versteckten, um auszuflippen“.Während der Diktatur „verschwanden“ Zehntausende politischer Gegner und wurden ermordet. LGBTQ-Personen wurden inhaftiert und gefoltert. „Es war eine harte Szene, jeden Tag verschwanden viele, die dazugehörten“, sagt McKern. „Dann kam dieser Typ an, Luca, der so etwas nicht erlebt hatte – er war völlig frei.“ Andrea fügt hinzu: „Dieser Typ, der nach Argentinien kam und auf Englisch sang, war so seltsam, dass die Militärs nicht wussten, was sie mit ihm machen sollten.“Die Behörden nahmen manchmal ganze Gruppen in Gewahrsam – aber die Fans kamen trotzdem zu den Sumo-Shows und riskierten ihre Freiheit und sogar ihr Leben. Einmal, als die Polizei alle verhaftet hatte und fragte, wer Luca Prodan sei, brach die Menge trotzig in Jubel aus, es hatte etwas von Spartacus. Prodan wurde kurz inhaftiert und schrieb McKern aus dem Gefängnis: „Es ist dasselbe wie in Gordonstoun, aber sie wollen nichts von dir.“In „Anno Domini“ mit Ava Gardner spielte er einen KerkermeisterDoch als 1982 der Falkland-Krieg ausbrach, musste Nuttal zurück nach Großbritannien. Auf Englisch zu singen wurde verboten, wegen ihr hatte Sumo den Spitznamen „die englische Band“. Die Boulevardpresse veröffentlichte Geschichten über Margaret Thatcher, die Babys aß. „Vielleicht hat sie das getan“, lacht Nuttal. Aber es war ein Sinnbild für die Stimmung im Land.Nuttal dachte, sie könnte im benachbarten Uruguay abwarten, kehrte aber schließlich nach Großbritannien zurück und gab die Musik auf. Bis heute gibt es Argentinier, die sie besuchen, weil sie diese Rolle in der Musikgeschichte ihres Landes spielte. „Ich finde das sehr außergewöhnlich, denn ich war ja nur kurz dort und habe nicht einmal Songs aufgenommen.“Sokol ersetzte Nuttal am Schlagzeug und ein Bassist und ein Saxofonist kamen hinzu. Die Band veröffentlichte 1983 ihre erste Platte, Corpiños en la Madrugada. Im selben Jahr stürzte die Militärregierung. Doch gerade als sich Argentinien zu öffnen begann, verlor Luca den Glauben an die Musik.Er kehrte kurz nach Europa zurück und besuchte seinen Bruder Andrea in Italien, wo er eine kleine Rolle in dem Bibelfilm Anno Domini mit Ava Gardner annahm. „Ich spielte Britannicus, aber aus ihm machten sie einen Kerkermeister“, sagt Andrea. „Ich erinnere mich, wie Luca sagte: ‚Ich bin hierhergekommen, um Urlaub zu machen, und sie haben mich wieder ins Gefängnis gesteckt!‘“Teil der argentischen Mythenmaschine wie Maradona und Evita PerónDer Kontinent hatte sich in seiner Abwesenheit verändert. In Großbritannien hatte das Yuppietum Einzug gehalten – und in Italien, fand er, war es noch schlimmer. So beschloss er, nach Argentinien zurückzukehren und seine ganze Energie wieder in die Band zu stecken. Sie unterschrieben bei CBS, einer heutigen Sony-Tochter, und veröffentlichten 1985 ihr erstes richtiges Album Divididos por la Felicidad, eine spanischsprachige Hommage an Joy Division. „Sumo explodierte förmlich“, sagt Andrea. „Es war unglaublich.“Die Band hatte die volle künstlerische Kontrolle. Sie spielten in immer größeren Hallen und ihr Ruhm wuchs rasant. Zwei weitere Platten erschienen. Derweil verschlimmerte sich Prodans Alkoholismus. Er trug nun ständig eine Flasche Gin mit sich herum. „Wir versuchten, Luca clean zu bekommen“, sagt McKern. „Aber da war immer das Gefühl, dass es zu Ende gehen würde. Am Anfang führte Luca bei allem Regie. Bei den letzten Aufnahmen legte die Band ihm mehr oder weniger die Musik vor und bat ihn, darüber zu singen.“Am 22. Dezember 1987 wurde Luca Prodan in seinem Haus im Stadtteil San Telmo von Buenos Aires tot aufgefunden, nach einem Herzanfall. Sumo löste sich in zwei Bands auf, Divididos und Las Pelotas, die für den argentinischen Rock Nacional auf ihre Weise wichtig wurden.„In nur sechs Jahren hat Argentinien Luca als einen der Seinen akzeptiert“, sagt Andrea. „Er schaffte den Durchbruch in die argentinische Mythenmaschine. Dort ist er jetzt neben Maradona und Evita Perón.“