„Die Entmenschlichung der Palästinenser begann 1948“, sagt Ilan Pappe. Der jüdische Historiker zählt zu den bekanntesten Kritikern des israelischen Staates – diesen Staat, so sagt er, zerstört Benjamin Netanjahu gerade


Der israelische Historiker und Politikwissenschaftler Ilan Pappe

Foto: Imago / CTK Photo


„Eine der größten Errungenschaften der israelischen Propaganda war es, die Palästinenser zu entmenschlichen“, sagt Ilan Pappe im Gespräch mit dem Freitag. Pappe, einer der sogenannten „neuen israelischen Historiker“, zählt zu den schärfsten Kritikern des israelischen Staates – und zu den wichtigsten Stimmen für eine gerechte Lösung im Nahen Osten. Auch nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 glaubt er weiter an eine Ein-Staat-Lösung.

der Freitag: Herr Pappe, was hat Sie politisiert?

Ilan Pappe: Es war eine Reise. Wie alle Reisen hat auch diese Stationen. Die erste Station war, dass ich Zeit außerhalb von Israel verbracht habe. Manchmal sieht man von außen Dinge, die man von innen nicht sehen kann.

Ilan Pappe: Es war eine Reise. Wie alle Reisen hat auch diese Stationen. Die erste Station war, dass ich Zeit außerhalb von Israel verbracht habe. Manchmal sieht man von außen Dinge, die man von innen nicht sehen kann. Der zweite Aspekt war meine Liebe zur Geschichte. Ich wollte unbedingt die Geschichte meines Landes studieren und habe deshalb die Dokumente und Archive eingesehen. Ich habe mir selbst ein Bild gemacht. Der dritte wichtige Punkt ist, dass ich mich entschied, mein Studium außerhalb von Israel fortzusetzen. Mein lieber Doktorvater, der verstorbene Albert Hourani, war ein Araber, der sich in den 1940er Jahren sehr für die Sache Palästinas engagierte. Er hat mir geholfen, die Geschichte und die Realität aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Es war für mich auch wichtig, an einer Universität außerhalb Israels zu sein, wo man Palästinenser treffen konnte, und zwar nicht unter den Machtverhältnissen, wie sie in Israel herrschen. Als Historiker wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, dass in meinem Namen Ungerechtigkeit begangen und Gerechtigkeit verweigert wurde. Wenn ich mir die Geschichte des modernen Palästinas seit dem späten 19. Jahrhundert anschaue, dann sind in den meisten Fällen diejenigen, denen Ungerechtigkeit angetan wird, Palästinenser. Und in den meisten Fällen sind die Täter die israelischen Zionisten.Hat Sie das auch dazu bewogen, Ihr soeben auf Deutsch erschienenes Buch „Die vergessenen Palästinenser“ zu schreiben?Ja. Und es ist nicht so einfach, diese Geschichte zu erzählen. Die meisten Menschen auf der Welt denken, dass zumindest diese Palästinenser in einer gleichberechtigten Welt leben, weil sie wählen dürfen, ins israelische Parlament gewählt werden können und die Staatsbürgerschaft haben. Aber sie leben in einem sehr ausgeklügelten System der Apartheid, das mein Kollege Uri Davis als „petty apartheid“ bezeichnet. Ihre Geschichte ist außerdem so zentral, weil sie die wohl wichtigste Gruppe sind, wenn wir uns überhaupt eine lebenswerte Zukunft in der Region vorstellen wollen. Die Palästinenser in Israel sind die einzigen Palästinenser in der Region, die Israelis nicht nur als Soldaten und Siedler kennen. Erst durch diese Gruppe und ihr Wissen wird eine Zukunft denkbar.Die Palästinenser in Israel sind die einzigen Palästinenser in der Region, die Israelis nicht nur als Soldaten und Siedler kennenKönnen Sie sich vorstellen, dass heute irgendjemand in Gaza bereit wäre, eine Zukunft zu erwägen, in der er oder sie mit Israelis zusammenlebt? Die Beziehung zwischen dem Staat Israel und den palästinensischen Bürgern Israels ist etwas komplexer. Sie erleben auch etwas anderes, was sie in den letzten zwei Jahren allerdings nicht oder kaum erlebt haben. Es gibt zwar intimere Beziehungen, Kenntnisse und Wissen. Aber auch das geht verloren, denn die Dinge ändern sich dramatisch. Israel importiert dieselben Methoden, die es gegen die Palästinenser im Westjordanland anwendet.Wie hat sich die Situation der Palästinenser in Israel seit dem 7. Oktober verändert?Die wenigen Freiheiten, die diese Bürger noch hatten – wie das Demonstrationsrecht, das Recht, ihre Meinung an der Universität und in der Presse zu äußern – wurden ihnen genommen. Wir sind in vielerlei Hinsicht in die Zeit der Militärherrschaft zurückgefallen. In den letzten zwei Jahren wurden viele Palästinenser in Israel in Verwaltungshaft genommen. Viele haben ihren Job verloren. Nur weil sie auf Facebook sagen, dass sie um die Kinder in Gaza weinen. Das reicht schon aus. Sie stehen unter enormem Druck.Was möchten Sie den Menschen durch Ihre Arbeit mitteilen?Eine der größten Errungenschaften der israelischen Propaganda war es, die Palästinenser zu entmenschlichen. Wenn wir Palästinenser als normale Menschen verstehen und behandeln, können wir uns einen Staat vorstellen, in dem alle gleich sind, egal welcher Herkunft, welcher Identität, welches Geschlechts. Aber: Wenn ich das, was ich hier in Deutschland gesagt habe, jetzt in Israel sagen würde, würde ich gegen das Gesetz verstoßen, denn es ist nicht erlaubt, die Identität Israels als jüdischen Staat in Frage zu stellen.Kürzlich wurde eine repräsentative Umfrage auf „Kanal 13“ in Israel veröffentlicht. Darin heißt es, dass 53 Prozent der Menschen in Israel nicht glauben, dass Israel die Pflicht hat, Lebensmittel oder Hilfsgüter nach Gaza zu lassen. Wie können wir dieser Entmenschlichung – nicht nur in Israel, sondern auch global – etwas entgegensetzen?Die Entmenschlichung der Palästinenser begann mit der Nakba 1948 und wurde vom Westen akzeptiert. Die Situation heute ist die logische Konsequenz. Das ist nicht am 7. Oktober entstanden. Das ist das Ergebnis von 77 Jahren Entmenschlichung. Darüber macht sich jetzt im Westen ein gewisses Unbehagen breit. Zu wenig, zu spät. Aber besser als nichts.Wird sich dieses Unbehagen ausbreiten?Langfristig auf jeden Fall. In Europa gibt es einen Aufschwung der Rechten, die echte Antisemiten und die besten Freunde Israels sind. Aber der Widerstand sowohl gegen Trump in den USA wie auch gegen die rechten Kräfte in Europa wächst und trägt ein vollständig anderes Verständnis von der Situation in Israel-Palästina mit sich. Das ist aber die langfristige Perspektive. So lange geht der Genozid in Gaza weiter. Aber übermorgen sieht vieles besser aus als morgen.Die Gewalt von Israel hat mich nicht wirklich überrascht. Überrascht war ich aber von der Gleichgültigkeit der europäischen PolitikMehrere europäische Regierungen versuchen derzeit, Israel zumindest ein bisschen unter Druck zu setzen. Warum passiert das gerade jetzt und ist das ein Grund zur Hoffnung?Ich bin überrascht, dass das nicht schon früher passiert ist. Die Gewalt der Hamas hat mich nicht wirklich überrascht. Die Gewalt von Israel hat mich nicht wirklich überrascht. Überrascht war ich aber von der Gleichgültigkeit der europäischen Politik. Ich dachte, dass sie sich von einem Völkermord, der täglich auf unseren Bildschirmen übertragen wird, zumindest ein bisschen bewegen lassen würde. Ich denke aber, dass es eine Grenze gibt, bis zu der man die Realität ignorieren kann. Diese Grenze wurde nun scheinbar überschritten.In einem Interview mit Al Jazeera haben Sie gesagt, dass der Zionismus in sein letztes Stadium eingetreten zu sein scheint. Worauf gründen Sie diese Einschätzung?Regime, die sich nicht behaupten können, sind am Ende oft besonders brutal. Diese Brutalität mag kurzfristige „Erfolge“ bescheren, doch sie ist ein Anzeichen für ihren Untergang. Für seine Basis kann Benjamin Netanjahu derzeit gewisse „Erfolge“ liefern. Aber damit zerstört er auch den Staat Israel. Außerdem gibt es eine Art Bürgerkrieg. Innerhalb der jüdischen Gesellschaft Israels gibt es zwei Gruppen. Sie können sich gegenseitig nicht besonders leiden, sogar noch weniger als die Palästinenser. Die eher säkulare, eher liberale Seite hat diesen Kampf aufgegeben. Sie verlassen das Land. Aber sie sind die wirtschaftliche und akademische Elite. Ein Staat ohne seine Elite hat keine gute Zukunft. Außerdem ist auch die Armee nicht sonderlich erfolgreich. Schauen Sie sich mal an, wie viele Soldaten sie brauchen, um eine kleine Guerillagruppe zu bekämpfen. Was wäre wohl passiert, wenn sie einer normalen Armee gegenübergestanden hätten?Die Juden in Israel sollten akzeptieren, dass sie eine Gruppe unter vielen sindDazu kommt noch, dass die ökonomische Krise viel tiefer ist, als wir dachten. Ohne Hilfe aus den USA kann die Wirtschaft nicht aufrechterhalten werden. Ich bin mir nicht sicher, ob die USA, selbst Trumps USA, Israel weiterhin finanziell unterstützen werden, wenn arabische Staaten sich als profitablere Partner herausstellen. Am Ende zählt Profit. Dann ist da noch die zunehmende politische Isolierung Israels. Selbst viele Premierminister und Präsidenten denken ernsthaft darüber nach, Sanktionen in Betracht zu ziehen. Wer hätte das gedacht? Und schlussendlich identifiziert sich die jüngere jüdische Generation kaum noch mit Israel, vor allem in den USA. Wer bleibt dann noch als Verbündete Israels? Christliche Zionisten, faschistische Parteien und Deutschland? Das reicht nicht aus. Und wohl am wichtigsten: Die Palästinenser werden auch nicht einfach verschwinden.Sie sind für eine Ein-Staat-Lösung. Ist das nicht für jüdische Israelis ein bedrohliches Szenario? Vor allem nach 19 Monaten Völkermord gibt es berechtigterweise eine große Wut auf der palästinensischen Seite.Einen Staat gibt es schon. Es ist aber ein Apartheidstaat. Die Frage ist, ob es für Juden besser ist, in einem Apartheidstaat zu leben, oder ob es besser ist, das Risiko einzugehen, in einem Nicht-Apartheidstaat zu leben. Das ist eine Frage, die sich viele weiße Menschen in Apartheid-Südafrika auch gestellt haben. Es ist beängstigend, ohne diese Privilegien zu leben, mit Menschen zusammenzuleben, die man über 100 Jahre lang unterdrückt hat. Man kann nur hoffen, dass sie keine Rachegelüste haben. Ich verstehe die Angst. Aber es gibt hier wirklich nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie setzen die Unterdrückung und die Apartheid fort und verstärken die Feindseligkeit. Oder man sagt: Die Ein-Staat-Lösung ist die beste Zukunft. Wir entscheiden uns langsam, diesen Weg einzuschlagen, daran zu arbeiten. Wie man in Südafrika gesehen hat, ist das eine gute Idee.Wenn Sie einen Plan für eine gerechte und friedliche Zukunft zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer entwerfen könnten: Wie würde er aussehen?Ich würde mir wünschen, dass die Palästinenser den Weg vorgeben. Ich, als israelischer Jude, würde diesem folgen. Ich würde ihn kritisieren, wenn ich denke, dass er unmoralisch oder so ist. Aber der Plan sollte von ihnen kommen. Zweitens hoffe ich, dass es in Zukunft etwas geben wird, das man als „transitional justice“ bezeichnen könnte, um für die Dinge zu kompensieren, die kompensierbar sind. Zum Beispiel könnte man die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge zulassen und Entschädigungen leisten, wo dies möglich ist. Aber nicht weniger wichtig als die Übergangsjustiz ist es, Ungerechtigkeit in der Zukunft zu verhindern. Ich denke an ein System, das auf dem Prinzip der Gleichheit und der Demokratie aufbaut. In der gesamten östlichen Mittelmeerregion gibt es eine bunte Mischung unterschiedlicher Identitäten. Die nationale Identität ist nicht für jeden Menschen gleichermaßen von Interesse. Die Juden in Israel sollten akzeptieren, dass sie eine solche Gruppe unter vielen sind. Ich bin nicht naiv, im Leben gibt es Konflikte. Wir sollten die Ein-Staat-Lösung nicht romantisieren. Es wird nicht einfach, aber wir werden und müssen das schaffen. Es passiert vielleicht nicht aus Liebe, aber es ist eine Notwendigkeit. Es ist der einzige Weg in eine bessere Zukunft.



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Von Veritatis

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