Am 26. Mai hatte Kanzler Friedrich Merz erstmals erklärt, dass Israel mit seinem Vorgehen in Gaza „jetzt wirklich humanitäres Völkerrecht verletzt“. Auf der Bundespressekonferenz vom 4. Juni wollte das Auswärtige Amt (AA) von dieser Einschätzung jedoch nichts mehr wissen und erklärte, dass man weiterhin prüfe, ob es zu Kriegsverbrechen und Bruch des humanitären Völkerrechts durch Israel gekommen sei. Bisher hätte die Bundesregierung dazu aber keine eigenen Erkenntnisse vorliegen. Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund wissen, ob das AA jetzt sogar der Einschätzung des Kanzlers widerspricht und wie das offizielle Regierungsnarrativ in Bezug auf Israels Agieren im Gazastreifen lautet. Von Florian Warweg.
Hintergrund:
Am 26. Mai erklärte Bundeskanzler Merz im Rahmen eines Interviews mit dem WDR:
„Das, was die israelische Armee jetzt im Gazastreifen macht, ich verstehe offen gestanden nicht mehr, mit welchem Ziel. Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas rechtfertigen.
Und wissen Sie, Herr Preiß, vielleicht darf ich das auch noch dazu sagen. (…) Wenn Grenzen überschritten werden, wo einfach das humanitäre Völkerrecht jetzt wirklich verletzt wird, dann muss auch Deutschland, dann muss auch der Bundeskanzler dazu etwas sagen und das tue ich auch.“
Meine Antwort zu den aktuellen Entwicklungen in Gaza: pic.twitter.com/IF7S3geyy6
— Bundeskanzler Friedrich Merz (@bundeskanzler) May 26, 2025
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 4. Juni 2025
Frage Jung
Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie meiner Frage ein bisschen ausgewichen sind. Ich habe Sie richtig verstanden, dass das AA bisher nicht festgestellt hat, dass Israel Kriegsverbrechen in Gaza begeht? Sie prüfen immer noch?
Hinterseher (AA)
Ich habe dazu gerade Stellung genommen. Ich habe Ihnen gesagt, dass wir zu den Fällen – vor allem zu diesen Vorfällen – keine eigenen Erkenntnisse haben. Das ist richtig.
Frage Jung
Sie prüfen ja, ob es bisher Kriegsverbrechen gab. Sie haben bisher in anderthalb Jahren dieses Krieges noch keine israelischen Kriegsverbrechen festgestellt.
Hinterseher (AA)
Ich habe Ihnen gerade dazu gesagt, was ich dazu zu sagen habe, Herr Jung.
Frage Warweg
Herr Merz hat am 26. Mai erklärt, dass nach seiner Einschätzung Israel mit seinem Einsatz in Gaza das Völkerrecht mindestens verletzt hat. Verstehe ich Sie richtig, dass das Auswärtige Amt jetzt sogar dieser Einschätzung des Bundeskanzlers widerspricht?
Hinterseher (AA)
Nein, Sie haben gerade meine Einschätzung dazu gehört. Der Bundesaußenminister und der Bundeskanzler hatten sich geäußert. Diesen Äußerungen habe ich nichts hinzuzufügen.
Regierungssprecher Kornelius
Sie müssen präzisieren, dass der Bundeskanzler sich in seiner Äußerung auf die humanitäre Situation in Gaza bezogen hat, und er Israel stets mahnt, humanitäres Völkerrecht einzuhalten, vor allem bei der Verteilung von Lebensmitteln und der Hilfe für die Zivilbevölkerung. Dazu hat der Kollege ausreichend Stellung genommen.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Diese Verteilung besorgt uns, aber sie besorgt uns auch, weil es auf der Seite der Hamas offensichtlich Instrumentalisierungen dieser Hilfslieferungen gibt. Deswegen appellieren wir an beide Konfliktparteien, die Zivilbevölkerung nach den Regeln des humanitären Völkerrechts zu behandeln.
Frage Warweg
Ich würde gern das Regierungsnarrativ verstehen. Man sagt also: Jawohl, Israel hat humanitäres Völkerrecht verletzt; dies entspricht aber keinem Kriegsverbrechen. Verstehe ich das richtig?
Kornelius
Die Bundesregierung hat an Israel appelliert, humanitäres Völkerrecht einzuhalten. Das ist eine andere Formulierung.
Zusatzfrage Warweg
Der Kanzler hat das anders formuliert als Sie. Er hat von Verletzung des Völkerrechts gesprochen, und das haben Sie jetzt zurückgenommen. Deswegen wollte ich wissen: Wie ist da das regierungsinterne Wording? Könnten Sie das noch einmal konkret machen? – Zumindest steht die Aussage des Kanzlers, dass Israel humanitäres Völkerrecht verletzt. Aber wenn es darum geht, das als Völker- oder Kriegsverbrechen zu formulieren, nimmt die Bundesregierung davon Abstand.
Kornelius
Sie wissen doch, dass Israel grundsätzlich das Recht hat, völkerrechtlich verbrieft, sich gegen die Angriffe der Hamas zu wehren, zu verteidigen. Dieses Selbstverteidigungsrecht muss der Bestimmung des humanitären Völkerrechts entsprechen. Die Bundesregierung hat auf die Bedeutung der Einhaltung des humanitären Völkerrechts gegenüber der Zivilbevölkerung hingewiesen. Das hat der Bundeskanzler mehrfach getan. Das ist eine Veränderung im Ton, die Sie jetzt mehrfach beschrieben haben. Ich glaube, in der Positionierung können wir Ihnen im Moment nicht weiterhelfen.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 04.06.2025