Seine SPD-Vorgängerin trat wegen des Umgangs mit der AfD zurück: Jetzt ist René Wilke Innenminister Brandenburgs. Wie er den dortigen Erfolg der Rechten erklärt und was er über seine halbe Heimat Russland wie den Koalitionspartner BSW sagt


René Wilke war sieben Jahre lang Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), bevor er im Mai 2025 zu Brandenburgs Innenminister ernannt wurde

Foto: Imago / dts Nachrichtenagentur


Seit bald zwei Monaten ist René Wilke im Amt, gerade hat Brandenburgs parteiloser Innenminister den Verfassungsschutzbericht 2024 vorgelegt: Um 565 Menschen ist das „Personenpotenzial im Phänomenbereich Rechtsextremismus“ demnach im vergangenen Jahr in dem Bundesland gestiegen, auf 3.650, davon sollen 1.430 „gewaltorientiert“ sein. Die AfD wird im Bericht weiter als Verdachtsfall“ geführt, obwohl sie der Brandenburger Verfassungsschutz im vergangenen Mai als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft hatte; eine Beschwerde der Partei dagegen liegt beim Verwaltungsgericht Potsdam, so lange liegt die Hochstufung auf Eis.

Infolge dieser Hochstufung kam Wilke, bis dahin Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), erst zu seinem neuen Pos

Verfassungsschutz im vergangenen Mai als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft hatte; eine Beschwerde der Partei dagegen liegt beim Verwaltungsgericht Potsdam, so lange liegt die Hochstufung auf Eis.Infolge dieser Hochstufung kam Wilke, bis dahin Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), erst zu seinem neuen Posten als Landesinnenminister in der SPD-BSW-Regierung unter Ministerpräsident Dietmar Woidke: Seine Vorgängerin Katrin Lange (SPD) war im – auch parteiinternen – Streit über den Umgang mit der AfD zurückgetreten, hatte aber zuvor noch den Chef des Landesverfassungsschutzes entlassen. Einen Nachfolger hat Wilke inzwischen ernannt, doch wie wird es das frühere Linken-Mitglied selbst mit der AfD halten? Deren Fraktion im Brandenburger Landtag ist knapp hinter den Sozialdemokraten die zweitstärkste, verfügt über 30 der 88 Mandate.Derzeit ist Wilke aber vor allem mit den Kontrollen an der Grenze zwischen Polen und Deutschland befasst – für den Frankfurter eine ambivalente Angelegenheit, befürwortet er doch die Grenzkontrollen auf deutscher Seite, pflegt aber seit jeher ein enges Verhältnis über die Oder hinweg. Seinem damaligen Amtskollegen aus dem polnischen Słubice fiel er als Oberbürgermeister 2020 freudig in die Arme, als die Corona-Lockdown-bedingte Grenzschließung wieder aufgehoben worden war.der Freitag: Herr Wilke, wann waren Sie das letzte Mal in Polen?René Wilke: Seit meinem Amtsantritt als Innenminister war ich noch nicht wieder dort. Aber im Frühling habe ich mit meiner Frau Urlaub in den Masuren gemacht. Ich hatte ja als Oberbürgermeister das Projekt, über Słubice, die Schwesterstadt von Frankfurt (Oder), hinaus das Land Stück für Stück weiter kennenzulernen. Als OB war ich zuletzt sicher jede Woche drüben in Słubice.Wie lief die Aus- und Einreise?Meist unkompliziert, ich wurde auch einmal kontrolliert. Als ich aus den Masuren kam, war Stau. Da standen wir eine Stunde.Wegen der Grenzkontrollen?Wegen der Verengung auf der A12 durch die Kontrolle auf dem einen Fahrstreifen.Diese deutsche Ignoranz gegenüber den Problemen in Polen hat das Fass zum Überlaufen gebrachtVerstehen Sie, dass Polen seinerseits jetzt Grenzkontrollen gestartet hat?In einer Dimension kann ich es total nachvollziehen, denn Deutschland war nach dem Empfinden vieler Polen respektlos gegenüber dem Land. Als die deutschen Grenzkontrollen begannen, sagten viele in Polen, sie verstünden das. Denn in Polen vermitteln Medien auch das Bild vom großen, gut geordneten Deutschland, das jetzt plötzlich beim Thema Migration so ungeordnet ist. Aber selbst Polen, die zum Beispiel wenig empfänglich sind für die Behauptung, es gäbe jetzt eine Massenbewegung von Migranten von Deutschland nach Polen, sind heute sauer auf Deutschland. Denn die Probleme mit den Staus durch die Grenzkontrollen auf der A12 wurden schlicht nicht gelöst – trotz der vielen Briefe, die ich mit der Bürgermeisterin von Słubice gemeinsam geschrieben habe in den vergangenen anderthalb Jahren, trotz vieler Vor-Ort-Termine, selbst der Staatssekretär des Bundesinnenministeriums war da. Diese Ignoranz gegenüber den Problemen in Polen hat das Fass zum Überlaufen gebracht.Es gab auch Beschwerden der polnischen Behörden, etwa über Bundespolizisten, die einen zurückgewiesenen Mann nicht übergeben, sondern einfach in Guben stehen hatten lassen.Für die lange Zeit, seit der die Grenzkontrollen laufen, gibt es sehr wenige Friktionen wie diesen Fall. Die Zurückweisungs- und Rückführungspraxis funktioniert sehr gut und kollegial zwischen den Kollegen auf der deutschen und der polnischen Seite, das bekomme ich hier auch von der Arbeitsebene bestätigt.Wenn der Staat denn präsent ist, dann durch Steuern, Vorgaben und Eingriffe – das ist bei vielen der EindruckFinden Sie den migrationspolitischen Kurs von Bundesinnenminister Alexander Dobrindt von der CSU richtig?Meine Haltung zum Thema Grenzkontrollen war von Anfang an, dass sie so kurz wie möglich andauern sollten, aber leider nötig sind. Denn der Zustand davor war ja auch keiner: Menschen wurden, teils in Gruppen, auf Gehwegen und auf der Straße aufgegriffen, nachdem sie abgeladen worden waren. Die Lage war geradezu eine Handreichung für Schleuser. Vielfach haben wir immer noch keine Kenntnis, wer eigentlich ins Land gekommen ist. In meiner jetzigen Funktion weiß ich noch genauer, dass darunter auch Menschen sind, die hierher geschickt wurden für Destabilisierung, Sabotage oder Spionage. Die Grenzkontrollen waren eine Art von Notwehr. Denn zur Wahrheit gehört ja auch, dass Polen uns in dem Thema auch etwas alleine gelassen hat. Und jetzt fühlt es sich in Polen nach Notwehrsituation an.Wird das Thema Migration durch die aktuelle Politik nicht größer gemacht und geredet, als es eigentlich ist?Den Eindruck habe ich überhaupt nicht. Es wird doch aktuell viel über Wirtschaft, Energiekosten, das Sozialsystem und vor allem auch Außenpolitik gesprochen. Aber wenn wir den Bogen zum Umgang mit Wahlergebnissen in Ostdeutschland spannen wollen – aus meiner Sicht gibt es einige Haupttreiber für die Erfolge der AfD. Wir haben nicht nur, aber auch im Osten Landstriche, die abgehängt wurden. Dort leben Menschen, die in ihrer Biografie die Erfahrung gemacht haben, dass der Staat präsent war und für Ausgleich sorgte. Es fehlte Industrie, also wurde Industrie angesiedelt, auch wenn es anderswo wirtschaftlicher gewesen wäre. Es fehlten Ärzte, also wurde ein Arzt hingeschickt. Heute kann sich ein Arzt aussuchen, ob er seine Praxis in Potsdam oder in Letschin im Oderbruch hat. Und der entscheidet sich oft für Potsdam, ganz marktwirtschaftlich. Dumm gelaufen für Letschin. Das kollidiert mit einer Erfahrungswelt, in der der Staat kann, wenn er denn will. Die Schlussfolgerung: Es gibt für all das gute Erklärungen. Aber es bleibt das Gefühl, dass der Staat heute nicht mehr helfen will. Und das wird als Abgehängtwerden empfunden. Dazu kommt der Eindruck, wenn der Staat dann präsent ist, dann durch Steuern, Vorgaben und Eingriffe.Das Thema Migration wird nicht groß gemacht. Es ist großWas hat das mit Migration zu tun?Zu dem Geschilderten mischt sich der Eindruck von einer Welt, in der sich täglich Dinge verändern, die auf uns alle einströmen, ich muss ja nur morgens auf mein Smartphone gucken. Daraus erwächst das Bedürfnis nach Rückzug und Ordnung: Die Dinge irgendwie so zu behalten, wie man sie kennt, anstatt weiterer Unordnung im Kopf, im Leben und Einflüssen von außen. Migration ist dabei ein Kombinationspunkt mit vielen konkreten Problemlagen, an Kitas und Schulen etwa, mit Auswüchsen, die ich auch in meiner Stadt hatte: Es gibt in Frankfurt (Oder) wie an fast jedem Ort in der Bundesrepublik mittlerweile Areale, wo vor allem Frauen und ältere Menschen abends nicht mehr hingehen. Das hat zugenommen. Und ja, es gibt auch deutsche Jugendgruppen, die für Angst und Schrecken sorgen, aber es gibt auch verdammt viele Migranten-Gruppen, die das tun. Das formt ein Bild von „So kann es nicht weitergehen“, auch rein mental unterfüttert: Dinge verändern sich, ich habe keinen Einfluss darauf, hier sind Menschen mit anderer Hautfarbe, Sprache und Kultur und das macht irgendwie ein komisches Gefühl. Diese Fremdheitserfahrung haben wir nicht gut genug gehandelt, so dass Menschen sie verarbeiten können. Migration ist nicht das einzige, aber es ist ein relevantes Thema und es zu meiden, provoziert den Vorwurf des Ausblendens von Realität, der wiederum einen Push-Effekt für die AfD nach sich zieht. Deshalb wird das Thema nicht groß gemacht. Es ist groß.Sind Sie in den Wochen in Ihrem neuen Amt einer politischen Antwort auf die Frage nähergekommen, ob die AfD eine gesichert extremistische Bestrebung ist?Ich bin jetzt zwar Innenminister, aber deswegen ja nicht klüger als Menschen, die seit Jahren in den Sicherheitsorganen tätig sind, die Erkenntnisse sammeln oder als Gerichte, die letztlich darüber entscheiden. Im Spektrum Rechtsextremismus, auch bei der AfD, haben wir es mit allerhand Akteuren zu tun, die Dinge von sich geben und tun, die erschreckend sind, menschlich hoch fragwürdig und unanständig. Ob das reicht, um zu sagen, gesichert rechtsextrem, kann ich noch nicht abschließend bewerten. Das müssen jetzt die Gerichte tun. Was ich aber erlebe, ist, dass etwa eine AfD-Abgeordnete über Hakenkreuze in Schulen mutmaßt, die seien ja vielleicht nicht so gemeint gewesen. Das finde ich irritierend und halte es von daher auf jeden Fall für wichtig und berechtigt, dass die AfD beobachtet wird.Parteitagsbeschlüsse, die den Eindruck erwecken, dass die Frage eines AfD-Verbots dem Willen von politischen Mitbewerbern unterliegt, halte ich nicht für hilfreichIhre Vorgängerin Katrin Lange von der SPD pochte darauf, die AfD politisch zu stellen und musste auch deshalb zurücktreten.Ich verstehe den vermeintlichen Gegensatz nicht, der da aufgemacht wird. So habe ich Katrin Lange auch nicht verstanden. Dieser Staat hat sich aus guten Gründen Mechanismen gegeben, um sich vor den eigenen Feinden zu schützen. Dafür sind die Hürden extrem hoch, wie wir beim Compact- oder schon beim NPD-Verbotsverfahren gesehen haben. Wenn aber Gerichte Erkenntnisse bestätigen, dass wir es mit einer Organisation zu tun haben, die diesen Staat und seine Verfassung umwälzen will, können wir ja nicht auf ein Verbotsverfahren verzichten, weil das vielleicht schlecht ankäme. Andersherum halte ich Parteitagsbeschlüsse, die den Eindruck erwecken, dass die Frage von Verbot oder Nichtverbot dem Willen von politischen Mitbewerbern unterliegt, nicht für hilfreich. Dazu kommt, dass man sich ja mal fragen muss, was im Verbotsfall in den Regionen passiert, wo die AfD 40 Prozent und mehr hat.Was passiert dann dort?In meiner Vorstellung ist es recht unwahrscheinlich, dass die Wähler sagen: Ach schade, jetzt sind die verboten, dann wähle ich halt SPD, CDU oder Die Linke. Die Menschen haben für ihr Wahlverhalten Motive, teils Überzeugungen, einige handeln aus einem gewissen Fanatismus heraus. Diese Menschen für anderes zu öffnen, sie wiederzugewinnen, das wird ein langer Weg. Ich befürchte, im Verbotsfall würde sich ein Teil der Bevölkerung sogar zur Wehr zu setzen versuchen. Und das zeigt das größte Problem: Der Abschied vom Vertrauen in rechtsstaatliche Prinzipien.Die AfD ist so viel besser und geschickter im Verkaufen, Vermarkten und Erklären des eigenen Handelns geworden als der komplette RestDie Bundeschefin Ihres Koalitionspartners in Brandenburg, Sahra Wagenknecht, fordert das Ende der Ausgrenzung der AfD. Glauben Sie, eine AfD in Regierungsverantwortung würde sich entzaubern?Wenn die AfD das umsetzen könnte, was sie ankündigt, dann würde erstens ein Großteil der Probleme ungelöst bleiben und zweitens einiges wirklich schlimm werden. Die AfD beschwert sich immer über Ausgrenzung und fehlende Demokratiefreundlichkeit. Aber das Erste, was sie in fast allen Anträgen fordert, ist es, die politischen Gegner auszusortieren, ihnen die Gelder zu streichen – eben das, was sie in ihrer inszenierten Opferrolle anderen vorwerfen. An Entzauberung glaube ich nicht. Wir erleben das ja in den USA, Ungarn oder Italien: Da verfestigt sich eine Ideologie und solange ideologisch das gemacht wird, was ideologisch erwartet wird, wird es dafür unabhängig vom konkreten Regierungshandeln weiter ein Fundament geben. Außerdem ist diese Seite des politischen Spektrums so viel besser und geschickter im Verkaufen, Vermarkten und Erklären des eigenen Handelns geworden als der komplette Rest.Mit Regierungsverantwortung für die AfD könnte es schneller gehen als gedacht – wenn etwa in Brandenburg die Koalition aus SPD und BSW mit ihren nur zwei Stimmen Mehrheit scheitern würde. Befürchten Sie nicht, Teil einer Regierung geworden zu sein, die bald implodiert?Die Frage musste ich mir ja schon in den ersten Stunden beantworten, nachdem Ministerpräsident Dietmar Woidke mich angerufen hatte. Nun sitze ich hier und kann sagen, dass mir die Koalition deutlich stabiler erscheint, als ich sie von außen betrachtete, wenn ich über sie gelesen habe. Die Regierungsmannschaft funktioniert auch klimatisch gut miteinander, die Fraktionen nähern sich immer mehr an, ich bin in einem sehr guten Austausch mit den Kollegen des BSW wie der eigenen SPD-Fraktion. Das fühlt sich innerlich gar nicht so fragil an, wie es von außen geschrieben wird.Das BSW und Russland? Ich arbeite doch nicht nur mit Menschen, die zu 100 Prozent so ticken wie ich. Dann könnte ich ja nicht einmal mit meiner Frau zusammen seinKrieg und Frieden waren bei den Koalitionsverhandlungen ein zentrales Thema. Sie sind in Sachen Russland fundamental anderer Meinung als das BSW.Ich habe im Alltag noch keinen Punkt gesehen, an dem das in unserem praktischen Handeln als Brandenburger Landesregierung kollidieren würde. Und ich hatte noch nie den Anspruch auf politische Hygiene im Sinne von „Ich arbeite nur mit Menschen, die zu 100 Prozent so ticken wie ich“. Dann könnte ich ja nicht einmal mit meiner Frau zusammen sein. Insofern kann ich gut damit leben, dass es Unterschiede gibt und das BSW hoffentlich auch.Ihre Mutter kommt aus Russland, Sie haben in Ihrer Kindheit in Moskau gelebt. Haben Sie noch Kontakte und aktuelle Bezüge dorthin?Verwandte sind seit langer Zeit verstorben. Meine Mutter lebt in Frankfurt (Oder). Ich will mich sicher nicht als Russland-Experte bezeichnen, aber ich habe einen eigenen Lebenseindruck von diesem Land und von der Art, wie die Menschen dort ticken. Wenn man da mehrere Jahre gelebt und viele Menschen kennengelernt hat, dann ist einem nicht egal, wohin sich dieses Land entwickelt. Ich habe einen inneren Schmerz, was das angeht. Und zugleich habe ich vielleicht ein etwas realistischeres Bild von Russland als manch andere, die hier mit Russlandfahnen durch die Gegend laufen.Ist Ihnen die Furcht vor einer abermaligen direkten kriegerischen Konfrontation zwischen Deutschland und Russland fremd?Ich kann mir eins zu eins anhören, was Wladimir Putin sagt und verstehe alles.Ich bin bilingual aufgewachsen. Mit Russisch ist es wie mit Schwimmen oder Radfahren – es verstaubt vielleicht ein bisschen, ist aber nie wegAlso sprechen Sie noch fließend Russisch?Ich bin bilingual aufgewachsen, das ist also wie mit Schwimmen oder Radfahren – es verstaubt vielleicht ein bisschen, ist aber nie weg. Dadurch höre ich im Original-Ton, wie Wladimir Putin in seinen Reden Bezüge herstellt zu einem Russland, wie es vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten mal war. Diese Fantasien, wer zu diesem Land gehört und wieder dazugehören sollte, äußert er seit langer Zeit sehr direkt. Insofern mache ich mir keine Sorgen darüber, dass er je gesagt hätte, Deutschland sollte Teil von Russland sein und werde direkt angegriffen, das ist nicht der Punkt. Aber dass die baltischen Staaten sich Sorgen machen, das verstehe ich sehr gut. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass, was in der Ukraine passiert ist, vorher so hörbar war. Wenn die baltischen Staaten in Mitleidenschaft gezogen werden, dann ist Deutschland als NATO-Mitglied Teil der Konfliktlinie. Das ist der Umkehrschluss, bei dem ich mir durchaus Sorgen mache.Sorgen – und zwar noch akutere – machen sich viele auch wegen 342 politisch rechtsmotivierter Straftaten an Schulen im vergangenen Jahr, wegen rechter Übergriffen in Cottbus oder auf das Stadtfest in Bad Freienwalde – wie erklären Sie sich, dass die mutmaßlichen Täter so jung sind, teils 14? Sind das die Kinder der Elterngeneration, die die Baseballschlägerjahre nach 1990 verantwortet?Ich glaube nicht, weil auch viele Eltern hochbesorgt darüber sind, was ihre Kinder da tun, was mit ihnen passiert. Nicht alle Jugendlichen, die Nazis sind, haben Nazi-Eltern. Was wir aber erleben, sind mehrere Dinge, die zusammenkommen. Erstens sagen Sozialpsychologen, das Attraktive an rechter Ideologie war schon immer, dass es für die Erzeugung einer Selbstüberhöhung reicht, deutsch zu sein. Man kann ansonsten allerhand Schwierigkeiten im Leben haben und Unzulänglichkeiten bei sich und anderen spüren – auf den daraus resultierenden Druck, ein starkes Selbstbild zu entwickeln, reicht als Antwort erstmal, Deutscher zu sein. Das macht es zweitens sehr einfach und subtil anschlussfähig. Und es gibt nicht nur, aber auch bei der AfD dafür heute mehr Anschlussmöglichkeiten als früher. Drittens gibt es reale Probleme. Jugendliche erleben durchaus an ihren Schulen, dass da Menschen aus anderen Ländern kommen und ihnen das Leben zur Hölle machen, Stichwort migrantische Kriminalität an Schulen und Orten, wo Jugendliche sind. Viertens: Social Media. Ich hab das selber ausprobiert, habe mir Videos von bestimmten rechten Personen angeschaut, da öffnen die Algorithmen rasend schnell das nächste und das nächste. Jugendliche ohne jede Vorbildung im Umgang mit dieser Medienwelt klicken mal auf ein Video und werden dann eingesogen in diese Sphäre, ein gut gemachtes Video folgt auf das nächste. Und das trifft auf eine Lebenswirklichkeit junger Menschen, die sich zu einem sehr großen Teil online, am Handy abspielt.Was wollen, können und werden Sie als Landesinnenminister dagegen tun?Was ich gern dagegen machen würde, aber in diesem Amt zu wenig machen kann, das ist die Regulierung der sozialen Medien. Wenn wir als Gesellschaft in einigen Jahren hoffentlich etwas klüger geworden sind, werden wir uns fragen, wie wir so dämlich sein konnten und das mit uns haben machen lassen. Ich nutze auch gern Instagram und Facebook, aber wir können doch nicht ernsthaft zulassen, dass wenige Unternehmen mit ihren schönen Angeboten freie Hand haben, uns jeden Tag aus wirtschaftlichen Gründen zu manipulieren. Wir wissen nicht einmal, wie diese Algorithmen funktionieren, aber wir merken doch alle, dass sie diese Gesellschaft beeinflussen und verändern. Was wir aber heute schon tun können, und das ist auch mein Part, ist Präventionsangebote anders aufzubauen, vielfältiger und vor allen Dingen stärker angepasst an diese Medienwelt. Ein wesentlichen Teil unserer aktuellen Prävention- und Medienbildungsarbeit läuft analog in einer zunehmend digitalen Welt. Da müssen wir ran und da sind wir auch schon dran.Ein Brandenburger Lehrer sagte mir, vielleicht solle die Landesregierung in Potsdam erst einmal nicht an Lehrerstellen und individueller Förderung schwächerer Schüler sparen …Wenn ich mir den Haushalt ansehe, dann gibt es im Bildungsbereich einen finanziellen Aufwuchs. Ich bin nicht Bildungsminister, aber aus meiner Sicht ist es verkürzt, zu sagen, wir brauchen einfach mehr Geld im System. Das mag eine Antwort sein. Vielleicht ist ein Teil der Antwort aber auch, dass da ganz schön viel Geld im System ist und wir trotzdem die Probleme haben, über die wir hier sprachen. Das meint nicht nur den Bildungsbereich sondern gilt für viele Themen – das Gesundheitssystem, das Sozialsystem und auch den Sicherheits-, Beratungs- und Präventionsbereich. Vielleicht muss man mit dem Geld, das im System ist, auch ein bisschen anders umgehen. Das würde Schmerzen erzeugen und tritt Anspruchshaltungen entgegen, aber scheinbar kann es nicht einfach so weitergehen wie bisher.

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Von Veritatis

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