Geschichte Eine Studie aus Schleswig-Holstein belegt die Involviertheit von Pastoren im Nationalsozialismus: Mehr als 80 Prozent kollaborierten mit den Nazis. Lässt sich das auf den Rest Deutschlands übertragen?

Döberitz, Brandenburg, vermutlich schon 1932: Feldgottesdienst in Anwesenheit des SA Obergruppenführers Graf Helldrof

Döberitz, Brandenburg, vermutlich schon 1932: Feldgottesdienst in Anwesenheit des SA Obergruppenführers Graf Helldrof

Foto: Carl Weinrother/BPK

Die Fotos der Jahre 1933 – 45 sind zutiefst verstörend. Kirchenglocken mit eingraviertem Christus- und Hakenkreuz, Seite an Seite; Pastoren stolz in SA-Reiteruniform; der Amtsantritt des Evangelischen Bischofs Johann Müller, feierlich umrahmt von Nazi-Uniformierten.

Kamen aber Gegenwind und Widerstand nicht von der Bekennenden Kirche um Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller? Die erstmals wissenschaftlich-komplette Durchleuchtung von Personaldaten einer evangelischen Landeskirche, der Schleswig-Holsteins, zeigt Erschreckendes.

40 Prozent ihrer Pastoren waren Mitglieder der NSDAP oder SA; 30 Prozent der zur Bekennenden Kirche Gezählten waren in der Partei; nur vier von 729 Geistlichen leisteten Widerstand. Die große Mehrheit, 80 Prozent der Pastoren, kollabori

storen, kollaborierte mit den Nazis, förderte sie in Wort und Tat, predigte Rassenwahn und Judenhass, verklärte Hitler zum Propheten und Götterboten, Christus zum Arier, den Krieg als gottgewollt, sogar Völkisches wollten Pastoren in der Bibel entdeckt haben. Fünf Jahre lang hat der Historiker Helge-Fabien Hertz in Archiven recherchiert, eintausend Predigten eingesehen und daraus das NS-Profil der Landeskirche erstellt, digital im Pastorenverzeichnis abrufbar. Es listet nicht nur Eckdaten jedes einzelnen Kirchenvertreters auf, Lebenslauf und Mitgliedschaften in NS-Organisationen, sondern auch Kernpassagen aus ihren Predigten sowie ihrer seelsorgerischen Arbeit. Die Predigten sind durchsetzt vom Nazi-Jargon, seiner Blut-und-Boden-Semantik, von Volks- und Rassengemeinschaft, Gefolgschaft und Führerkult. Viele Gottesdienste setzen Christentum und Nationalsozialismus gleich. Mal zutiefst braun, mal nur angebräunt, aber der NS-Tonus schimmert bei fast sämtlichen Einlassungen von den Kanzeln im Landesnorden durch. Als ob Goebbels die Predigt mit verfasst hätte.„Die Landeskirche hat die Ideologie weitgehend mitgetragen“, kommentiert die Nordkirchen-Bischöfin Kirsten Fehrs die Studie, eher resignativ. 1935 predigt Walter Ahrens, SA-Mitglied, über die Gemeinschaft als Kampfestruppe, „Krieg als Vater aller Dinge“: „Menschen, die das gleiche Blut haben, empfinden sich als zusammengehörig. Deshalb gehören natürlicherweise der Neger und der Jude und der Deutsche nicht zusammen (…) Unser Kampf ist berechtigt. Ich will es noch genauer sagen: er ist geboten, von Gott geboten.“Ein paar Beispiele: Ernst Andersen, Bekennende Kirche, seit 1928 bei der SA (an deren Saalschlachten sich auch Pastoren beteiligten): „Dem Schicksal seines Blutes kann kein Mensch entrinnen. Wer als nordischer Mensch geboren ist, kann nicht zu einem andersblütigen Menschen werden (…) Auch das reine Blut des nordischen Menschen bedarf der Erlösung genauso gut wie das Mischlingsblut eines unglücklichen Bastards.“ Andere Kollegen würzten mit Alfred Rosenberg, NS-Chefideologe, ihre Predigten, jonglierten mit „Religion nordischen Blutes“ und „jüdischer Pöbel“.Oder Walter Rustmeier, Bekennende Kirche und NSDAP-Mitglied, er betreute als Vikar 1933/34 die deutsche Gemeinde in Helsinki. Die Jugend animiert er zu paramilitärischen Übungen. Seine Examenspredigt verklammert Sozialdarwinismus und Volksgemeinschaft, später beteiligt er sich an der Verbreitung des antisemitischen Pamphlets Die Kirche und der Jude.Handlungsspielräume gab esWilhelm Diekow gehörte der protestantischen Gegenfraktion, den Deutschen Christen, an, die sich offiziell zum Nationalsozialismus bekannte. Er war zwar kein Parteimitglied, dafür umso radikaler, forderte, dem „völkischen Glauben auch entsprechende Taten folgen zu lassen“; wenn ein Volk wie das jüdische sich von Christus abgewendet hat, „spricht es über sich selbst das Todesurteil“. 1934 nahm er den Holocaust vorweg, ebnete ihm den Weg.Bei den moderateren Pastoren fallen zwei Namen auf, Peter Höhnke und Heinrich Petersen. Sie lavieren, sind ohne Klartext, allenfalls Andeutungen. Letzterer appelliert an seine Gemeinde, dass das „Evangelium, nicht menschliche Obrigkeit“ die höchste Gewissensinstanz sei. Ersterer kommuniziert im „Ja-aber“-, „Sowohl-als-auch“-Modus („Volk, Rasse, Blut sind sehr hohe Werte, aber nicht die absoluten“). Mehr Prägnanz wäre möglich gewesen. „Den Pastoren blieben durchaus große Handlungsspielräume“, unterstrich Professor Thomas Steensen, als er Hertz den 2022-Preis der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte für seine „außergewöhnliche Arbeit“ verlieh. Und räumte dabei mit einem weiteren NS-Mythos auf, dem gängigen Täter- und Mitläufer-Narrativ: „Wir mussten ja“. Steensen stellte klar, dass keiner der Pastoren gezwungen wurde, „in seinen Predigten dem ‚Führer‘ zu huldigen, die ‚Volksgemeinschaft‘ zu heiligen oder die Juden zu diffamieren. Alles geschah freiwillig, auch der Eintritt in die Partei. Selbst Kritik am NS-Staat war ohne ernste Folgen möglich“.Das bewies der Widerständigste der Handvoll Hitlergegner unter den 729 Pastoren. Friedrich Slotty, Seelsorger in St. Michaelisdonn, Dithmarschen. Der Mann mit dem rauschigen Walrossbart nennt Hitler in einer Predigt „Blutsauger“ und „Emporkömmling“. Er verweigert den Hitlergruß, zerpflückt die NS-DNA, Rassismus, Antisemitismus, Militarismus, kanzelt den allen Nazis heiligen Heldengedenktag ab, brandmarkt das Wehrgesetz als „sündiges Gelüst“ zum „Entzünden eines Weltbrands“, fährt einen Konfirmanden in HJ-Uniform an: „Ich werde euch die Revolutionsmucken schon austreiben.“Der Vater von sieben Kindern wird mehrmals von der Gestapo verhört, kommt aber immer wieder frei. Das wird dem Landeskirchenamt zu brenzlig. Sie schickt den Freidenker 1939 in den einstweiligen Ruhestand, zahlt das volle Gehalt aber bis zur Emeritierung 1947 weiter. Entlastend, vielleicht lebensrettend: Bis 1934 war Slotty ein begeisterter Anhänger und NS-Protegé gewesen. Insgesamt sind sich Interpreten der Studie einig: Die Kirche bot einen wichtigen, wenig genutzten Schutzschirm.Den gab es auch nach 1945, für NS-Täter. Ernst Szymanowski, später Biberstein, trat bereits 1926 in die NSDAP ein. 1942 ließ der ehemalige Propst in Segeberg als SA-Kommandeur 3000 Menschen ermorden. In Nürnberg wurde er zum Tode verurteilt, später zu lebenslanger Haft, in den 1950ern begnadigt, auch durch kirchliche Unterstützung, war fortan in der Kirchenverwaltung tätig. Er starb 1986 mit 87 Jahren.Hertz’ Pastorenverzeichnis wird millionenfach aufgerufen, sorgt in Kirche und Gemeinden für Aufsehen, regt Forschungsprozesse an – vielleicht auch in anderen Landeskirchen, ihre Pastorendaten zu durchforsten. Erst dann entstünde ein vollständiges Bild, gleichwohl die Ergebnisse woanders nicht viel anders ausfallen dürften, meinen Experten. Der Historiker setzt sich für weitere bundesweite Forschungsanstrengungen ein. „Es darf keinen Schlussstrich geben“, fordert er im Gespräch mit dem Freitag. „Der Ausbau einer webbasierten Erinnerungskultur ist von immenser Bedeutung. Bald haben wir keine Zeitzeugen mehr, während Bestrebungen zur Revision der NS-Geschichte auch im Internet weiter um sich greifen.“Placeholder infobox-1



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Von Veritatis

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