Wer an Weihnachten in Berlin das Pech hatte, einen Rettungsdienst rufen zu müssen, konnte lange warten. Manchmal brauchte es viele Stunden und viele telefonische Verhandlungen, bis ein alter, hilfsbedürftiger Mensch in ein Krankenhaus gebracht wurde. Von einem „Katastrophenjahr“ sprechen die Dienste, die das Fundament der einst hochgelobten, soliden deutschen Gesundheitsarchitektur darstellen. Dass es nicht nur an der Eingangspforte zum System knirscht und kracht, sondern Hilfesuchende wegen geschlossener Klinikbetten abgewiesen werden müssen, für die es keine Pflegenden gibt, ist bekannt.
Die Pflegemisere – von den Gesundheitsverwaltern lange ignoriert – hätte das Land auch ohne Pandemie eingeholt, so wie sich die medizinische Diaspora in den ländlichen Gebieten lange angekündigt hat oder absehbar war, dass sich die Versorgung von Kindern zum Notstandsgebiet entwickeln würde. Die jahrzehntelange Beschränkung (teurer) Medizinstudienplätze war ebenso gewollt wie die skandalöse Ausbeutung von Jungärzt:innen im Praktischen Jahr, gegen dessen Einführung sich Medizinstudierende (im Westen) einmal so heftig gewehrt hatten.
Das gilt auch für den gezielten Abbau von Pflegekräften – nicht erst durch das System der Fallvergütung (DRG), das sich nicht nach Pflegebedarf, sondern nach statistischen Größen richtet. Viele Pflegekräfte reagierten auf die Arbeitsverdichtung mit Berufsflucht. Es braucht mehr als das Winken mit einer Prämie, um geschätzt 300.000 Berufsaussteiger:innen zurückzuholen. Dass der Pharmazie-Riese Deutschland Fiebersäfte für Kinder auf „Flohmärkten“ tauschen lassen will, wie es Ärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt vorschlug, oder in aller Welt Wald-und-Wiesen-Antibiotika zusammenkratzen muss, wird einmal als Treppenwitz in die deutsche Medizingeschichte eingehen.
Liste der geschlossenen Krankenhäuser wird länger
An all dies soll nur erinnert werden, um deutlich zu machen, dass unser von mehreren Säulen getragener Gesundheitsbau nicht unmodern oder altersschwach geworden ist, sondern unter systematischer Vernachlässigung leidet. Ihm wurden nicht nur die Vitalkräfte entzogen, sondern auch die voraussehende Instandhaltung vorenthalten. Allein der Investitionsbedarf der Kliniken, rechnete die Deutsche Krankenhausgesellschaft im Januar 2022 vor, beträgt über sechs Milliarden Euro, die von den zuständigen Ländern beigebracht werden müssten. Seit Ausbruch der Pandemie hat das bereits 40 Krankenhäuser die Existenz gekostet, ab 2023 stehen 68 auf der Streichliste.
Die könnte sich noch verlängern. Unter der frechen (und völlig irreführenden) Parole, das DRG-System abzuschaffen, hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) im Dezember seine Reform der Krankenhausversorgung vorgestellt. Sie sieht eine strenge Leistungsbewertung und -beschränkung der Kliniken vor, die zwischen Maximalversorgung (Uni- und Zentralkrankenhäuser) und „besserer Pflegeklinik“ aufgefächert werden sollen, Letztere wird weder Notfallversorgung noch einen 24-Stunden-Dienst des ärztlichen Personals vorhalten. Mit der „Ambulantisierung“ will Lauterbach die „Patientenströme“ umleiten, sodass zum Beispiel hilfsbedürftige Hochbetagte, die an Weihnachten umfallen, die Schwelle einer normalen Klinik gar nicht mehr übertreten und keine Aussicht auf eine Operation mehr haben werden. Begründet wird die Reform perfiderweise mit dem Mangel an Fachkräften und Pflegepersonal. Gleichzeitig schwadroniert Lauterbach vom „Menschen im Mittelpunkt“.
Widerstand? Die Länder ducken sich, und NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, letzter Doyen des Arbeitnehmerflügels der CDU, führt gerade vor, wie Klinik-Kahlschlag funktioniert. Mit dem neuen Vorsitzenden der Gesundheitsministerkonferenz, dem Grünen Manfred Lucha, der „mehr Kompetenzen für die Länder“ fordert, übt er neue Bündnisse ein. Baden-Württemberg steht an der Spitze der Klinikschließungen, und im „Ländle“ hat Lucha erfolgreich Corona wegdefiniert und zum „Atemwegsinfekt“ erklärt. Wer es nicht glaubt, setze sich dort in eine Straßenbahn oder fordere einen PCR-Test. Auch die Chefin des Spitzenverbands der Krankenkassen, Doris Pfeiffer, stimmt sich auf den Lauterbach-Plan ein.
Was aber, wenn es noch teurer wird, wie sich bald an den steigenden Krankenkassenbeiträgen – bislang nie erreichte 16,2 Prozent – zeigen wird? Wenn aufgrund von Personalverschiebetrassen und Versorgungseinschränkungen die Qualität sinkt? Das Jahr 2023 wird zeigen, wohin das System geht und wem es dienen soll. Vielleicht wird Gesundheit zu dem Unruheherd, der nicht nur einen Gesundheitsminister anfasst. Entwürfe für Volksbegehren, etwa gegen Klinikschließungen, liegen bereits in den Schubladen von Initiativen.