Der Abschuss von MH17 vor Gericht. Der 17. Juli 2014 veränderte die Welt: Über der Ostukraine wurde ein Passagierflugzeug abgeschossen, fast 300 Menschen starben. Der Westen machte sofort prorussische Rebellen verantwortlich. Unser Reporter war damals mit einer der ersten auf dem Leichenfeld – und berichtet jetzt exklusiv über den Prozess in Den Haag gegen die vermeintlichen Täter.
von Billy Six
Diese Bilder werden Slava und Christina nie mehr vergessen: Der damals 37-jährige Lkw-Fahrer und seine 14 Jahre alte Tochter waren die Allerersten, die das grauenhafte Leichenfeld zwischen der ostukrainischen Industriestadt Tores und Großmutters Heimatdorf Grabowo zu sehen bekamen. Das Schulmädchen filmte den unmittelbaren Anblick der zerrissenen Körper von 298 Menschen des malayischen Linienflugs MH17, der am 17. Juli 2014 auf seinem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur vom Himmel geschossen worden war. Diese ersten Videoaufnahmen, die wir später gemeinsam veröffentlichen, wurden im Netz schnell von den britischen Medienorganen Daily Mail und Daily Mirror geklaut.
US-Satellitenaufnahmen konnten nie verifiziert werden.
Unsaubere Arbeitsmethoden der angelsächsischen Kommerzpresse – die Urheber werden nie honoriert – scheinen Alltag zu sein. Eine große Belastung für die Bevölkerung der betroffenen Region war auch die ungeprüfte, aber wirkungsvolle Verbreitung der US-Behauptung, auf Satellitenbildern des Pentagons sei der Start einer Boden-Luft-Rakete festgestellt worden – im Westen das bis heute gültige Narrativ von dem Massenmord und der Schuld der prorussischen Rebellen. 2016 musste das «internationale» – im Kern ukrainisch-niederländische – Joint Investigative Team (JIT) jedoch einräumen, dass die angeblichen Aufnahmen nie verifiziert werden konnten.
Rakete oder Kampfjet?
Statt der ansonsten üblichen Forensiker übernahmen der ukrainische Geheimdienst SBU und der britische Bellingcat-Blogger Eliot Higgins die (Vor-)Arbeit für die Ermittler – die Mitgliedes des Teams kommen aus den Niederlanden (dem Land mit den meisten Todesopfern), der – mit einem Vetorecht ausgestatteten – Ukraine, Australien, Belgien und des erst verspätet zugelassenen Malaysia. Sie präsentierten Videos und Fotos aus dem Netz, die angeblich Transport und Einsatz einer massiven Buk-Rakete aus Russland zeigen, die die MH17 vom Himmel geholt haben soll: allesamt unscharf und unklaren Ursprungs. Ein aufgeflogenes Dokument der australischen Bundespolizei von 2015 hält nun fest, die Metadaten bei vier der einschlägigen Fotos «scheinen manipuliert worden zu sein». Originale stünden demnach nicht zur Verfügung.

Das Papier, dessen Echtheit von Canberra bereits bestätigt wurde, war Teil einer ganzen Serie von Enthüllungen in den Tagen vor Beginn des niederländischen Strafprozesses am 9. März 2020 – die von den Systemmedien bewusst weitgehend verschwiegen werden. Über geheime Wege, die der niederländische Privatermittler Max van der Werff und die russische Journalistin Yana Yerlashova von Bonanza Media nicht preisgeben wollen, gelangte auch ein Dokument des niederländischen Militärgeheimdiensts MIVD aus dem Jahr 2016 an die Öffentlichkeit: «Es zeigt sich, dass Flug MH17 außerhalb der Reichweite aller identifizierten und operativen ukrainischen und russischen Standorte flog, an denen 9K37 Buk-M1-Systeme eingesetzt wurden», heißt es darin. Öffentlich war nur eine Woche nach dem Abschuss das glatte Gegenteil behauptet worden.
«Es kann keine Flugabwehr-Rakete gewesen sein.» NVA-Oberst Biedermann
Gesprächsprotokolle der Ermittler aus dem Jahr 2018 belegen außerdem, dass noch vier Jahre nach der Tragödie verzweifelt nach Augenzeugen gesucht wurde, die den Start von «Putins Rakete», so The Sun, gesehen haben könnten. In den niedergeschriebenen Gesprächen wurde offen diskutiert, Zeugen auch zu «ködern». Das Problem: Während Dutzende Augenzeugen vor Ort den Überflug von mutmaßlich ukrainischen Kampfflugzeugen gesehen oder gehört haben und einige sogar einen gezielten Angriff auf die Boeing bezeugen, fehlen Beobachter für das westliche Wunschszenario. «Unmöglich», findet Bernd Biedermann, früher Oberst der NVA-Luftabwehr. «Es kann keine Flugabwehrrakete gewesen sein, auch keine Buk», stellte er bereits damals fest. Im Umkreis von bis zu zehn Kilometern – und damit in einem Gebiet mit über 100.000 Einwohnern – wäre der Überschallknall einer solchen Rakete zu hören gewesen, so Biedermann, der früher auch als DDR-Militärattaché in der NATO-Stadt Brüssel tätig war. Acht bis zehn Minuten hätte ein Kondensstreifen am Himmel sichtbar gewesen sein müssen. Das Zielobjekt wäre – durch den Splittergürtel einer Raketenexplosion in zehn bis fünfzehn Metern Entfernung – nicht mechanisch zerstört, sondern durch die extreme kinetische Energie der Metallteile in Brand gesetzt worden, speziell nach einem Einschlag in die Tanks.
Die Spuren am Wrack
Stattdessen wurde die Pilotenkanzel von MH17 wie bei einer Bombenexplosion abgetrennt – und regnete in hunderten Einzelteilen nieder. Der Rumpf segelte nach der Attacke noch 6,5 Kilometer weiter und explodierte erst beim Aufschlag am Boden. Ein mögliches Abbild des kombinierten Einsatzes von Bordkanonen und Luft-Luft-Raketen, meint Ex-Kampfpilot Dieter Kleemann, der Ende der 1980er Jahre in der NVA als Chefausbilder der Flieger fungierte. Auf Fotos von Trümmerteilen zeigt er insbesondere auf die wenigen ovalen der insgesamt 350 unregelmäßigen Löcher: Dort weist die Innenwand nach innen, die äußere Flugzeughaut aber nach außen. Wie das geschehen sein könnte, erklärt der pensionierte Oberst so: «Wenn ein Splitter-Spreng-Geschoss auftrifft, explodiert, durchmarschiert und die Außenhaut durch diese Explosionskraft eben nach außen ausbördelt.»
Im Gespräch meint auch der frühere Luftwaffengeneral der Bundeswehr, Dr. Hermann Hagena, der Einsatz eines ukrainischen Kampfflugzeugs wäre «sehr viel wahrscheinlicher» als die Theorie der russischen Boden-Luft-Rakete. In einer 54-seitigen Studie hat er «sieben Abschusserfolge mit Buk» im Georgien-Krieg von 2008 analysiert und kommt zum Schluss, «dass in allen Fällen Piloten und Besatzungsmitglieder mit Schleudersitz beziehungsweise Fallschirm im Schnitt 40 Sekunden nach dem Buk-Treffer ihre Flugzeuge verlassen konnten». Im Fall der MH17 waren die Besatzungsmitglieder jedoch als erste tot. Ob sich tatsächlich einige der Passagiere noch im Sinkflug die Atemmasken aufs Gesicht zogen, konnte oder wollte die offizielle Ermittlung bis heute nicht klären. Die Hagena-Studie wurde 2015 zeitweise auf der Netzseite des NDR veröffentlicht, später aus ungenannten Gründen wieder gelöscht. Mindestens 20 frühere deutsche Militärs teilen die Thesen ihrer Kameraden.

Kiew behauptet dagegen bis heute, damals überhaupt keine Flugzeuge im Abschussgebiet in der Luft gehabt zu haben. Darüber hinaus seien die Radaranlagen der Region an diesem 17. Juli aus Wartungsgründen allesamt abgestellt gewesen. Stellungnahmen pensionierter Militärs, die die NATO-Version stützen, waren in den etablierten Medien bislang nicht zu lesen. Allenfalls anonyme Gewährsleute, so wie beim preisgekrönten Recherche-Büro Correctiv, das auch «geheime Zeugen» zu einem Ort erfand, der heute nicht mal von der JIT-Ermittlung anerkannt wird. Deren bestes Beweisstück – vermeintlich mitgeschnittene Telefongespräche zwischen Rebellen und russischen Armeeangehörigen – wurde durch einen audio-forensischen Untersuchungsbericht aus Malaysia jüngst als Fälschung entlarvt.
Prozess ohne Angeklagte
Während der ersten beiden Tage des Gerichtsverfahrens erklärte die niederländische Staatsanwaltschaft, das Gutachterbüro aus Kuala Lumpur habe keine Originalquelle untersucht, sondern nur die auf Youtube veröffentlichte Vorschau. Ob der vom ukrainischen Geheimdienst zur Verfügung gestellte Mitschnitt nun weiterhin Teil der Beweisakte bleibt, wollten die Verantwortlichen jedoch trotz Nachfragen nicht beantworten. Russland wird derweil beschuldigt, mit «einer Desinformationskampagne» den Prozess sabotieren zu wollen. Zeugen würden angeblich mit dem Tode bedroht. Gleich zu Anfang wurde das Verfahren überraschend für zwei Wochen ausgesetzt. Die antirussische Propaganda kämpft wohl mit wachsenden Zweifeln in der Öffentlichkeit…
Das Miauen von Bellingcat
Schon bald nach der Tragödie machte die selbsternannte Recherchegruppe Bellingcat mit der Behauptung Furore, das russische Verteidigungsministerium habe Satellitenaufnahmen zum Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17 Mitte Juli 2014 gefälscht, um der ukrainischen Regierung die Schuld zuzuweisen. Doch Bellingcat ist ein seltsames Kätzchen: Sein Chefanalyst, ein gewisser Timmi Allen, heißt in Wirklichkeit Olaf Neitsch und war bis 1989 Stasi-Mitarbeiter.
Auch dem Spiegel wurden die seltsamen Experten irgendwann zu viel. Das Blatt veröffentlichte im Juni 2015 ein Interview mit der Überschrift «Bellingcat betreibt Kaffeesatzleserei». Befragt wurde Jens Kriese, im Unterschied zu «Timmi Allen» ein ausgewiesener Fachmann für digitale Bildbearbeitung. Auszug:
Spiegel: Halten Sie die russischen Satellitenbilder für manipuliert?
Kriese: Die Frage ist falsch. Wir haben es nicht mit Satellitenaufnahmen zu tun. Wir kennen nur die Version, die Moskau veröffentlicht hat. Das ist eine zu Präsentationszwecken aufbereitete Satellitenaufnahme.
Spiegel: Bellingcat kommt zu dem Schluss, dass sie mit Photoshop bearbeitet wurde.
Kriese: Eine Fehlinterpretation. Sie sagen: Die Metadaten zeigen, dass die Bilder mit Photoshop bearbeitet wurden. Daraus folge, dass es wohl die Wolken waren, die eingefügt wurden, um etwas zu verschleiern. In Wahrheit beweist der Hinweis auf Photoshop in den Metadaten nichts. Mit irgendeinem Programm mussten die Russen das Satellitenbild ja für die Präsentation bearbeiten. Sie haben Rahmen und Textbausteine eingefügt, als Erklärungen für die Öffentlichkeit. Die identifizierten Artefakte können ihre Ursache darin haben – oder auch durch mehrfaches Abspeichern im JPG-Format entstanden sein.
Übrigens ist keiner der vier Angeklagten – drei Russen und ein Ukrainer – bei dem Prozess anwesend. Moskau liefert sie nicht aus. Dass diese die Buk-Rakete abgefeuert haben, behaupten nicht einmal die Ankläger. Ihr Ziel ist vielmehr, den Nachweis zu erbringen, dass die Waffe von den prorussischen Rebellen organisiert wurde, um Flugzeuge abzuschießen, wozu sie als irreguläre Einheiten kein Recht gehabt hätten. Die Anwälte des einzigen mit einem Rechtsbeistand vertretenen Beschuldigten haben nun bis Juni Zeit, die 36.000 Akten zu studieren. Das Verfahren könnte sich dann noch über Jahre hinziehen. Der 57-jährige Privatermittler van der Werff kündigt unterdessen weitere Enthüllungen an, auch wenn er zunehmend um seine Sicherheit fürchtet. Vorwurf der Agententätigkeit wies er auf einer Pressekonferenz in Den Haag gekonnt zurück: «Russische Propaganda ist sehr hilflos und ineffizient», es gebe bis heute «keine offizielle russische Version, die wir prüfen können». Gehör fand er dabei ausschließlich bei freien Pressevertretern. Kein Zufall. Wie eines der von ihm geleakten Protokolle der JIT zeigt, haben die Ermittler angedacht, im Zweifel «die Medien zu unserem Vorteil zu nutzen».
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